Titelbild eines Buches

Tobias Freimüller: Frankfurt und die Juden. Neuanfänge und Fremdheitserfahrungen 1945–1990.

(Studien zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Band 1; zugleich Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Band 28). Wallstein Verlag Göppingen 2020. 568 Seiten. Fest gebunden € 44,–. ISBN 978-3-8353-3678-0; auch als E-Book erhältlich

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Der Band zur deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte Frankfurts eröffnet eine neue Publikationsreihe des Fritz Bauer Instituts. Die Frankfurter Forschungs- und Bildungseinrichtung, nach dem aus dem Exil zurückgekehrten Juristen und Initiator der Frankfurter Auschwitz-Prozesse benannt, hat sich in den letzten 26 Jahren mit vielfältigen, oft wegweisenden Aktivitäten zur Erforschung und Vermittlung von Geschichte und Folgen des Holocaust hohes Renommee erworben. Seit 2000 ist sie ein An-Institut der Universität Frankfurt, 2017 wurde die Leitung mit dem ersten Lehrstuhl in Deutschland zur Geschichte und Wirkung des Holocaust verbunden.

Freimüllers Studie widmet sich einem Thema, das in der lange vernachlässigten deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung besonders spät Aufmerksamkeit erhielt. Erst die von der Zuwanderung von Juden aus den GUS-Staaten ausgelösten Veränderungen der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland rückten die deutsch-jüdische Nachkriegsgeschichte in den Fokus der Aufmerksamkeit. Das führte seit der Jahrtausendwende zu einer schwer übersehbaren Fülle an Lokalstudien. 2012 legte dann Michael Brenner, Inhaber des einzigen Lehrstuhls für jüdische Geschichte in Deutschland, an der LMU München angesiedelt, zusammen mit acht anderen Autoren die erste umfassende Gesamtdarstellung der westdeutschen jüdischen Nachkriegsgeschichte vor. Es liegt in der Natur der Sache, dass Freimüllers Untersuchung der Frankfurter jüdischen Nachkriegsgeschichte im Wesentlichen den dort herausgearbeiteten Zäsuren und Entwicklungslinien folgt. Allerdings zählt er anders als Brenner den durch die russisch-jüdische Zuwanderung ausgelösten Aufbruch nicht mehr zur Nachkriegsgeschichte, wie er in der Einleitung darlegt. Auch setzt er jüdische Geschichte nicht mit der Geschichte der jüdischen Gemeinde gleich, sondern schließt Personen in seine Untersuchung ein, die in keiner persönlichen Beziehung mehr zur jüdischen Kultur und Religion standen wie der in Zuffenhausen geborene Max Horkheimer, der 1949 aus dem US-amerikanischen Exil zurückgekehrte Direktor des Instituts für Sozialforschung und Kopf der Frankfurter Schule sowie dessen Freund, Mitarbeiter und Mitgestalter der Kritischen Theorie Theodor W. Adorno. Mit diesem offenen Ansatz, der sich bereits im Titel widerspiegelt, gelingt es dem Autor, die Frankfurter Spezifika herauszuarbeiten. Er betrachtet die Stadt als »Beispiel eines besonders hoch aggregierten Einzelfalls«. In neun, weitgehend chronologisch aufgebauten Kapiteln entfaltet er kenntnisreich und differenziert ein facettenreiches Tableau der jüdischen Geschichte dieser westdeutschen Großstadt zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs resp. dem Niedergang des »Dritten Reichs« und dem mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verbundenen Ende des Kalten Krieges. Dabei liegt sein thematischer Schwerpunkt auf den zwei Nachkriegsdekaden, ohne dass dies weiter erläutert wird. Den Anfang dieser viereinhalb Jahrzehnte jüdischen Lebens in der Mainmetropole, die 1933 mit 30.000 Juden den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil unter den deutschen Städten hatte, machten neben wenigen überlebenden Frankfurter Juden Tausende staatenlose, entwurzelte Überlebende aus Osteuropa. Sie sammelten sich am Ort des US-amerikanischen Hauptquartiers in der Hoffnung, rasch nach Palästina oder in die USA weiter zu gelangen. Für beide Gruppen war es ein Anfang in Trümmern, für die osteuropäischen Juden aber auch hinter Stacheldraht. Die gerade den Vernichtungslagern und der Verfolgung Entronnenen fanden sich erneut in einem Lager wieder, dem eilig errichteten DP-Camp im Stadtteil Zeilsheim. Mit über 5.000 traumatisierten und völlig erschöpften Menschen war das Lager hoffnungslos überfüllt. Dennoch wurde es zum Schauplatz eines beeindruckenden Revivals jüdischer Kultur, ein »jüdischer Ort«. Was als Transitstation auf dem Weg heraus aus Europa gedacht war, entwickelte sich nach 1948 für viele Jüdinnen und Juden aus unterschiedlichen Gründen, in der Regel aber unfreiwillig, zu einem Dauerzustand – eine Situation voller Ambivalenzen. Denn das Leben im »Land der Täter« erfuhr von den meisten Emigranten nur Unverständnis, von den internationalen jüdischen Institutionen Missachtung und von den Deutschen Desinteresse, Misstrauen und von Schuld gespeiste Ablehnung. Fremdheitserfahrungen ziehen sich deshalb wie ein roter Faden durch die jüdische Nachkriegsgeschichte. Immer war sie eben auch die Geschichte der Beziehung zwischen Juden und Nichtjuden: lange Zeit eine Nicht-Beziehung, bestimmt vom dominanten Versöhnungswunsch der Deutschen, der sensibles Zuhören vermissen ließ, einerseits und einem fortlebenden Antisemitismus andererseits.

In diesem Prozess kam es in der Mainmetropole zu Ereignissen, die zu Meilensteinen der bundesrepublikanischen Beziehungsgeschichte wurden. So die Rückkehraufforderung durch Stadt (Oberbürgermeister Walter Kolb) und Universität an die emigrierten Forscher des Instituts für Sozialforschung und dessen Wiedereröffnung 1950, die als Selbstaufklärung für die deutsche Wegseh-Gesellschaft gedachten Auschwitzprozesse 1963–1965 und schließlich die Verhinderung der Uraufführung von Rainer Maria Fassbinders Stück »Der Müll, die Stadt und der Tod« 1985. Die ersten beiden Ereignisse markieren das Entstehen einer Atmosphäre, in der jüdisches Leben langsam gedeihen und sich konsolidieren konnte. Das brachte Salomon Korn 1986 bei der Einweihung des Jüdischen Gemeindezentrums mit dem seither häufig zitierten Bleibebekenntnis (»Wer ein Haus baut, will bleiben«) zum Ausdruck. Die spektakuläre Bühnenbesetzung durch Jüdinnen und Juden und der wenig später aufgebrochene Konflikt um den geplanten Bau eines städtischen Funktionsgebäudes auf den Überresten der frühneuzeitlichen Judengasse markieren dagegen das selbstbewusste »coming out« (Daniel Cohn-Bendit) junger Frankfurter Jüdinnen und Juden. Daraufhin setzte ein tiefgreifender Wandel im Selbstverständnis der jüdischen Gemeinschaft in ganz Deutschland ein. Er wurde wesentlich getragen von der sogenannten Zweiten Generation, den Kindern der Displaced Persons. Umgeben vom Schweigen der Eltern und einer die NS-Zeit verschweigenden Mehrheitsgesellschaft fühlten auch sie sich fremd, aber immerhin »Fremd im eigenen Land«, wie ein viel diskutierter Buchtitel damals hieß. Eine kritische Standortbestimmung begann, vor allem von der Frankfurter Jüdischen Gruppe um Micha Brumlik, Dan Diner und Cilly Kugelmann vorangetrieben. Bei nicht wenigen führte das zu einer Auswanderung nach Israel, die aber meist vorübergehend blieb. Nach der Rückkehr engagierten sich die meisten und wurden zu einer wichtigen Stimme im bundesrepublikanischen Diskurs. Das wirkte sich auch auf die beginnende Auseinandersetzung junger Deutscher mit dem Nationalsozialismus aus. Zudem weckte es ein wachsendes Interesse an jüdischer Geschichte und Kultur, wobei sich die lokale jüdische Geschichte nun eher bei den Emigranten in Israel, Südamerika und den USA finden ließ als in Frankfurt selbst. Erst das 1980 von der Stadt beschlossene und 1985 eröffnete Jüdische Museum machte die lokale jüdische Geschichte wieder in der Stadt sichtbar, klammerte die zerrissene jüdische Gegenwart allerdings vollkommen aus. Das sollte sich erst mit der 2020 neu eröffneten Dauerausstellung ändern.

Abschließend bündelt Freimüller seine Ergebnisse noch einmal als Nachgeschichte des Nationalsozialismus sowie als Migrations- und Integrationsgeschichte. Dabei ist es das besondere Verdienst der gut geschriebenen Studie, dass sie die komplexe jüdische Nachkriegsgeschichte Frankfurts nicht auf eine erfolgreiche Integrationsgeschichte reduziert, sondern deren Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit anschaulich ausleuchtet.

Benigna Schönhagen

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