Silberburg Verlag Tübingen 2018. 191 Seiten mit 154 Farbfotos und einer historischen Abbildung schwarz/weiß. Broschur 19,99 Euro. ISBN 978-3-8425-2074-5
Mit Superlativen muss man sparsam umgehen – aber man darf sie dort, wo sie angebracht sind, benutzen: Dieses Buch ist ein Meisterwerk. Ein Buch auch, das gute Fragen aufwirft zur Entwicklung des Verkehrs, zu Vorteilen altbewährter Reiseformen mit überschaubaren Distanzen, über Nähe, Vertrautheit und Kleinteiligkeit in ihrer Bedeutung für Heimat, aber auch für das große Ganze. Der eher nüchtern wirkende Titel des Buches lässt kaum erahnen, was sich alles dahinter verbirgt: ein Geschichtsbuch, Eisenbahnbuch, Heimatkundebuch, ein Buch über Botanik, Geologie und Wirtschaft. Und ein Buch, das die Augen für die Schönheiten am Wegesrand öffnet, ebenso wie für die vielfältige Kultur im badischen und württembergischen Land am Neckar. Diese dem Buchgrußwort aus berufenem Mund – von Hagen von Ortloff, bekannt vor allem durch die Fernsehserie Eisenbahnromantik – übernommene Einschätzung ist nicht überhöht. Die 191 Seiten bieten kurzweiliges Lesevergnügen mit vielfältigen neuen Erkenntnissen. Man kennt das Land hinterher viel besser als vorher; und man erfährt gleich noch eine Menge Freizeittipps.
Das Buch ist in elf Kapitel gegliedert, nach geographischen Abschnitten des Neckars. Kein Flussabschnitt kommt zu kurz. Große und kleine Städte werden ausgewogen beschrieben und gewürdigt. Durchweg findet man dieselbe Treue zu wichtigen Details von Flusslandschaft und Bahnstrecke, ohne dass die Schilderungen überladen wirken. Die professionellen Fotos mit aussagekräftigen Bildunterschriften und die farblich abgesetzten Informationsblöcke machen das Buch sehr lesefreundlich. Autoren, Lektorin und Verlag haben hier bestens zusammengewirkt. Auch Hinweise auf die reichhaltige Literaturgeschichte Württembergs und Badens kommen prominent zur Geltung: Äußerlich zeigt sich das auch an den Zitaten von Schriftstellern und Dichtern wie Sebastian Blau, Friedrich Hölderlin, Thaddäus Troll, Mark Twain, Gottfried Keller und Joseph Victor von Scheffel, die den Kapiteln zur Einstimmung in die Reiseabschnitte vorangestellt sind.
Wanderer und Radtouristen kommen ebenfalls nicht zu kurz; dies auch, weil manche Bahnstrecke, autozentriertem Zeitgeist folgend, stillgelegt wurde, teils dann aber zum Radweg umgebaut und im Buch empfohlen wird. Die Leser erfahren, an welchen Bahnhöfen einst vom Neckartal ausgehende – heute stillgelegte – Stichbahnen hinaus ins Land führten; dies teils bis hinauf auf die Schwäbische Alb, mit einer Zahnradbahn, die, existierte sie heute noch, eine Touristenattraktion nicht nur für die im nahegelegenen Metzingen einkaufenden Kunden aus aller Welt wäre. Wo bleibt weitsichtiges und kreatives Marketing-Denken der Verantwortlichen in Bahnunternehmen, Politik und Wirtschaft? Unsere in Sachen Selbstvermarktung begabteren Nachbarn im Freistaat Bayern hätten die in einer Zahnradbahn am Trauf der dichtbesiedelten Mittleren Alb liegende doppelte Chance einer umweltfreundlichen Verkehrserschließung sowohl für Touristen als auch für die täglichen Pendlerströme von der Alb sicher nicht verspielt.
Die Autoren Schedler und Maier verschweigen Fehlentwicklungen bei der Bahn nicht, wie zum Beispiel die Verlagerung der Zuckerrüben- und anderer Gütertransporte auf die Straße. Dies ist eine wesentliche Ursache für die Ausdünnung des Schienennetzes. Sie schildern dies jedoch ohne Larmoyanz und benennen ebenso Zukunftsprojekte wie die Regionalstadtbahn im Raum Tübingen/ Reutlingen oder die jüngst fertiggestellten Abschnitte der Stadtbahn im Raum Heilbronn. Vielleicht können die Autoren bei einer künftigen 2. Auflage des Buches dann berichten, dass die Diskussion um die Wiederinbetriebnahme der 1994 stillgelegten Zabergäubahn als Südast der Heilbronner Stadtbahn zu einem positiven Ergebnis geführt hat. Beim vorübergehend angedachten Nordostast, der 1993 stillgelegten Kochertalbahn von Jagstfeld über Neuenstadt am Kocher nach Ohrnberg (1953 war sogar noch von einer Durchbindung über Ohrnberg hinaus nach Forchtenberg und Künzelsau die Rede), wird es zu einer solchen Wiederbelebung der Bahntrasse nicht kommen: Sie ist mittlerweile an einigen Stellen überbaut, z. B. durch einen Lebensmittelmarkt mit großem Parkplatz am alten Bahnhof in Ödheim und eine Umgehungsstraße in Neuenstadt, zum Teil aber auch durch einen reizvollen Radweg.
Die Hinweise für Wanderungen und Erkundungen zu Fuß sind nutzergerecht aufbereitet, auch mit Angaben zu Buslinien und mit exakten Wegbeschreibungen zu kulturellen und städtebaulichen Sehenswürdigkeiten, zu Museen oder Naturschutzgebieten. Nebenbei erfährt man auch einiges zur Bundeswasserstraße Neckar, so etwa, dass 26 der 27 Staustufen als Wasserkraftwerk dienen. Es ist die unaufdringliche Schilderung wichtiger Details, die dieses Buch zu einer Fundgrube für jeden macht. Dabei erfährt man auch Überraschendes, etwa, dass – bei allem Respekt vor den Automobilschmieden Württembergs – hierzulande auch der Bau von Lokomotiven, Triebwagen, Eisenbahnwagen und Straßenbahnen eine große Tradition hatte. Die Esslinger Maschinenfabrik baute nicht nur Bahnen für Württemberg, sie schuf Produkte von Weltruf, die international auch wegen ihrer Zugkraft in Gebirgsregionen sehr geschätzt wurden. 1965 ging das Unternehmen an die Daimler-Benz AG, 1966 wurde die letzte Lokomotive gebaut. Vielleicht verliefe die aktuelle Diskussion um Feinstaub, Stickoxide und Verkehrsbeschränkungen für hochemittierende Kraftfahrzeuge anders, wenn in Württemberg noch Schienenfahrzeuge gefertigt würden.
Das Buch weicht auch gewichtigen schmerzhaften Punkten unserer Geschichte nicht aus, wie der Beschreibung der Gedenkstätte Zeichen der Erinnerung am Nordbahnhof Stuttgart für die von dort aus durchgeführten Deportationen von Juden und Sinti in die Vernichtungslager. Weiter flussabwärts wurden im Zweiten Weltkrieg ZwangsarbeiterInnen und Häftlinge des Konzentrationslagers Kochendorf in den Schächten des dortigen Salzbergwerks zur Rüstungsproduktion eingesetzt. Viele kamen dabei zu Tode.
Der Gewissenhaftigkeit der Autoren entspricht es, dass sie in dem nördlichen, ab Haßmersheim überwiegend badischen und an Burgen reichen Teil des Neckars mit gleicher Sorgfalt vorgehen wie im württembergischen Teil. Man erfährt, dass Eberbach im 19. Jahrhundert Zentrum des Schiffbaus am Neckar war, mit fünf Werften. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Schifffahrtslinie von Heilbronn über Eberbach nach Heidelberg die schnellste Verbindung vom württembergischen in den Rhein-Neckar-Raum, denn eine durchgehende Bahnverbindung fehlte noch. Mit dem Lückenschluss des Schienenstranges zwischen Württemberg und Baden im unteren Neckartal 1879 endete diese Episode. Auch der immerhin rund 20 km lange Anteil Hessens am Neckarlauf im Raum Hirschhorn/Neckarsteinach mit seinen vielfältigen Reizen wird gebührend gewürdigt.
Kleine Feinheit zum unteren Neckar am Rande: Es spricht einiges dafür, dass die legendäre Queen Victoria – von 1837 bis 1901 Königin des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland – nicht nur (was allgemein bekannt ist) etliche deutsche Ahnen hatte, sondern auch hierzulande geboren wurde, auf einem Neckarschiff im Mai 1819 vor Eberbach, auf der Fahrt ihrer Eltern nach England. Details zum Für und Wider dieser These sind nachzulesen auf S. 152 f. des Buchs. Zu guter Letzt: Könnte man etwas besser machen an dem Buch? Dem Rezensenten fällt praktisch nichts ein, außer einer Bitte und einem Hinweis für die dank hoffentlich starker Nachfrage bald erforderliche zweite Auflage des Buches: Die Karte in der hinteren Umschlagseite sollte nicht nur den Neckar und seine Nebenflüsse, sondern auch die Bahnlinien zeigen. Auch sollte insbesondere im Blick auf die hoffentlich auch zahlreichen badischen Leser dieses Buches die Aussage auf S. 189 geprüft werden, ob Mannheim tatsächlich die zweitgrößte Stadt Baden-Württembergs ist und nicht Karlsruhe. In jüngster Zeit hat die badische Residenzstadt Karlsruhe die Kurpfalzmetropole Mannheim einwohnermäßig knapp überholt. Aber diese Spitzenstellung kann sich wieder ändern. Eine Spitzenstellung hingegen, die Bestand haben dürfte, ist die Spitzenstellung dieses Buches.
Stefan Frey
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