Hrsg. Martin Furtwängler u. a. (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, Forschungen, Bd. 229). W. Kohlhammer Verlag Stuttgart 2020. 273 Seiten mit einigen Abbildungen. Fest gebunden € 28,–. ISBN 978-3-17-039339-4
Gerade vierzehn Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (1949) erlaubte ein bayerischer Bundesminister mit den Worten, ein Beamter könne nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen, tiefe Einblicke in sein Verhältnis zur demokratischen Verfassung seines Staats. Hermann Höcherl reihte sich damit ein in die lange Tradition konservativer Geringschätzung einer zum Grundverständnis liberaler und freiheitlicher Bestrebungen zählenden Errungenschaft: der in eine Verfassung gefassten und damit garantierten Rechte der Staatsbürger. Das gespaltene Verhältnis zunächst der Kreise des Ancien Régime – des Adels, vieler Beamter und der Kirche –, später der konservativen Parteien zu den Verfassungen, bis hinein in die Weimarer Republik, ganz zu schweigen von derer Verachtung durch die Nazis, bildet so etwas wie einen roten Faden in dem von Martin Furtwängler herausgegebenen Aufsatzband zu Geschichte und Wert der badischen und württembergischen Landesverfassungen seit 1818/19.
Niederschlag fand das Verhältnis der politischen Lager gerade auch in deren Einstellung zu Verfassungsfeiern und -jubiläen. Wo für die liberale Bewegung des Vormärz die Verfassung einem politischen Katechismus gleichkam, unterminierten und boykottierten konservative Politiker sie, wie – um nur ein Beispiel zu nennen – Staatsminister Friedrich von Blittersdorf nach 1830 in Baden. Und als 1924 bis 1928 die konservative Regierung des Landes Württemberg unter Wilhelm Bazille und Eugen Bolz (Deutschnationale Volkspartei/Zentrum) die Durchführung von Verfassungsfeiern in der Weimarer Republik schlicht zu verhindern suchte, war deren Zustandekommen zuletzt fast ausschließlich der Organisation durch das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold der Sozialdemokraten zu verdanken, wie Reinhold Weber darlegt. Eine tendenziell ähnliche Grundeinstellung von Links und Rechts zur Verfassung und zu Verfassungsfeiern und -jubiläen beobachtet Martin Furtwängler zuvor schon für das ganze 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg.
Nichtdestotrotz kam den liberalen Verfassungen des deutschen Südwestens und deren Verankerung in der Bevölkerung ganz erhebliche Bedeutung zu. Württemberg und Baden übernahmen dabei in Deutschland nach dem Ende der napoleonischen Ära eine Vorreiterrolle: Baden mit einer vom Landesherrn von oben gewährten, Württemberg aber mit einer zwischen den Landständen als Vertreter des Volks und König vereinbarten Verfassung. Mehrere Beiträge des Sammelbandes verweisen auf die enorme integrative Kraft der Verfassungen, aufgrund derer erst eigentlich ein Staat entstand und sich im deutschen Südwesten die Einwohner nun als Badener oder Württemberger empfanden. Der Ulmer Stadtarchivar Michael Wettengel legt dies sehr anschaulich in seinem Beitrag zu den Auswirkungen der Verfassung – auch indirekt über die Kommunalordnung(en) und Wahlrechte – am Beispiel der Stadt Ulm dar. Wettengels Beitrag ist weniger verfassungs- und rechtstheoretisch orientiert denn an der tatsächlich ge- und erlebten historischen Wirklichkeit, und ist damit der vielleicht spannendste Beitrag des Bandes.
Der Aufsatz »Der König von Württemberg und der Großherzog von Baden in ihren [?, der Rezensent] Verfassungen« könnte den Eindruck erwecken, in diesen sei über die Stellung des Regenten, dessen Rechte und Pflichten nicht viel ausgesagt. Dorothee Mußgnug fokussiert eher darauf, wie dessen jeweilige Stellung von Staatsrechtlern wie etwa Robert von Mohl und Karl von Rotteck interpretiert wurde oder wie der Umgang der Regenten mit der Verfassung – und gelegentlich deren Umgehung – sich gestaltete; letzteres kursorisch behandelt an zentralen, liberale Forderungen betreffenden Beispielen wie etwa der Pressefreiheit (historisch richtig müsste es wohl heißen »Preßfreiheit«), dem Steuerbewilligungsrecht, dem Wahlrecht, der Ministerverantwortlichkeit und immer wieder auch mal Landtagsauflösungen.
Die Aufsatzsammlung will laut Vorwort die Ergebnisse einer Tagung in Karlsruhe 2019 anlässlich des Doppeljubiläums der Inkraftsetzung der südwestdeutschen Verfassungen 1818/19 und des Grundgesetzes 1949 zusammenfassen. 70 Jahre Grundgesetz mögen für ein Feiern ein etwas schiefes Datum sein. Doch obwohl das Grundgesetz nicht Thema des Tagungsbands ist, stellt sich die Frage, wie die Bundesrepublik Deutschland ihre Verfassung ehrt(e) und feiert(e), vor allem aber wie sie im Bewusstsein der Bevölkerung verankert ist. Präsent ist sie dort nicht zuletzt durch Hunderte von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts als höchster deutscher Instanz, die sich zu einem Anwalt der Bürger und seiner Rechte entwickelt hat; eine Rechtsprechung wie sie in dieser Form weder der Deutsche Bund nach 1815, noch das Kaiserreich und die Weimarer Republik kannten. Insofern sollte immer noch jeder Politiker und Beamte das Grundgesetz tunlichst unter dem Arm tragen.
Raimund Waibel
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