Die anthroposophische Ärzteschaft
Hrsg. vom Ita-Wegman-Institut für Anthroposophische Grundlagenforschung (Arlesheim, Schweiz) im Auftrag der Akademie der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland. Schwabe Verlag, Basel 2024. 914 S., 55 Abb., Hardcover 92 €. ISBN 978-3-7965- 5028-7

Man könnte darüber spekulieren, warum diese Publikation nicht in dem auf anthroposophische Veröffentlichungen spezialisierten Rudolf-Steiner-Verlag erscheint, sondern im Basler Schwabe-Verlag mit seinem breiten Programm. Allerdings unterrichtet der an erster Stelle genannte Autor Prof. Dr. med. Peter Selg medizinische Anthropologie und Ethik an der Hochschule Witten/Herdecke, er ist Leiter des Ita-Wegman-Instituts und Mitglied der Goetheanum-Leitung. Die zweite Autorin Susanne H. Gross forscht zu den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus und ist ebenfalls Mitarbeiterin am genannten Institut, während der dritte, Matthias Mochner, Journalist und Autor von Büchern zur biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise und zur organischen Architektur ist.
Der vorliegende erste Band verspricht eine »differenzierte Betrachtung« des Verhaltens anthroposophischer Mediziner im Nationalsozialismus, ohne dieses auf die »polaren Beschreibungen von Widerstand und Kollaboration« zu reduzieren. Wie kontrovers dieses Thema betrachtet werden, zeigt sich beispielsweise an dem Wikipedia-Artikel zur Anthroposophie, der ausführlich auf diese Epoche eingeht.
Bevor der Band zur Zeit des Dritten Reiches kommt, stellt er ausführlich die Vorgeschichte, nämlich die »Entwicklung der Anthroposophischen Medizin 1920–1933« vor, in der auch die frühen anthroposophischen Kliniken behandelt werden, wie etwa das 1921 eröffnete Klinisch-Therapeutische Institut auf der Gänsheide in Stuttgart, das nach großen anfänglichen Erfolgen 1924 wieder schließen musste, aber auch zahlreiche »Äußere Hindernisse und interne Krisen«. Das vierte Kapitel behandelt »Reaktionen auf die nationalsozialistische Machtübernahme«, in dem Ita Wegman sowie das Goetheanum und die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland im Mittelpunkt stehen. In Kapitel 5 geht es um »Das nationalsozialistische Regime und die Anthroposophie« mit Abschnitten zum »System der Überwachung«, den Berichten des Sicherheitsdienstes SD sowie den sich verschärfenden »Stufen des Verbots«; unter den vorgestellten »Unterstützer[n] und Protektoren« findet man auch den Philosophen Alfred Baeumler.
In dem mit 300 Seiten umfangreichsten Kapitel 7 wird »Das Verhalten der anthroposophischen Ärztinnen und Ärzte« untersucht. Nach einem einleitenden Abschnitt werden zwölf Personen vorgestellt, die der »Überwachung und Repression« durch die Gestapo unterworfen waren, während die drei folgenden Abschnitte biografische Informationen zu weiteren Personen unter den Rubriken »NS-Affinität, Anpassung und Kooperation« (zwölf Namen), »Verweigerung und Widerstand« (elf Personen) sowie »Not und Flucht« (sieben Personen jüdischer Herkunft) bereithalten. Als Kapitel 8 folgt noch eine knappe »Kritische Bilanz«.
Im Anhang finden sich ein gut 100 Seiten umfangreiches, gegliedertes Literaturverzeichnis, das Abbildungsverzeichnis sowie das Personenregister.
Die Benutzung dieser, wie man in einem solchen Fall zu sagen pflegt, »quellengesättigten« Publikation (rechnet man die Fußnoten aller Kapitel zusammen, kommt man auf gut 3800), wird dadurch erleichtert, dass den Kapiteln 3 bis 7 jeweils eine Zusammenfassung vorangeht.
Den beiden weiteren Bänden sieht man erwartungsvoll entgegen: der für November 2024 angekündigte Band 2 wird sich unter dem Titel »Weleda und WALA – die anthroposophischen Arzneimittelfirmen 1933–1945« mit der wirtschaftlichen Seite der anthroposophischen Medizin befassen, und der für das Frühjahr 2025 in Aussicht gestellte Bd. 3 soll »Die anthroposophische Psychiatrie und die heilpädagogischen Heime anthroposophischer Orientierung« thematisieren.
Klaus Schreiber
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