Titelbild eines Buches

Claudia Kleemann und Martin Ulmer: Simon Schocken. Jüdischer Kaufhauspionier – Philanthrop – Gestalter

Schmetterling Verlag Stuttgart 2020. 224 Seiten mit zahlreichen Schwarz-Weiß- Abbildungen. Gebunden 29,80 €. ISBN 978-3-89656-163-2

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Warenhäuser sind ein Kind der Moderne, ein Signum der Gründerzeit. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts boten sie vor allem Bewohnern der Großstädte, deren Zahl im Zug der Industrialisierung rapide zunahm, die Möglichkeit, Waren günstig, bequem und in großer Auswahl in einem Gebäude zu erwerben, statt sie von Einzelhandelsgeschäft zu Einzelhandelsgeschäft zusammensuchen zu müssen. Die betriebswirtschaftliche Innovation prägte mit repräsentativen Neubauten nicht nur das Bild der Städte, sie bildete auch neue Kommunikationsformen und eine bis dahin unbekannte Warenästhetik aus. Im kollektiven Gedächtnis sind diese Einkaufstempel fest mit Namen wie KaDeWe, Tietz, Karstadt, Wertheim und Schocken verbunden, im Süden und Südwesten auch Knopp und Landauer. Die Postmoderne machte ihnen allen den Garaus. Im Zeichen von Globalisierung und Digitalisierung bietet der Internethandel andere Wege, rasch und billig an seine Ware zu kommen, trägt aber gleichzeitig entscheidend zur Verödung der Innenstädte bei. Im 19. Jahrhundert waren es nicht selten familiäre und verwandtschaftliche Netzwerke, die den Inhabern der Waren-und Großkaufhäuser die Verwirklichung eines Geschäftsprinzips ermöglichten, das darin bestand, mit geringen Preisspannen ein Maximum an Waren zu verkaufen. Reelle Festpreise, Barzahlung, Kundenbindung durch Rabatte und moderne Werbung gehörten ebenfalls dazu. Das Modell war so erfolgreich, dass sich rasch ganze Einzelhandelskonzerne daraus entwickelten.

Zu den Pionieren der Warenhausbewegung gehörte das Brüderpaar Simon und Salman Schocken aus der westpreußischen Provinz Posen. Die beiden ergänzten sich aufs Beste: Simon war der Macher, Salman der Stratege. Zwei weitere Brüder und ein Schwager unterstützten sie. Da der 1874 geborene Simon Schocken schon 1929 bei einem Verkehrsunfall starb, ist der Kaufhausgründer weit weniger bekannt als sein jüngerer Bruder Salman (1877–1959). Mit dessen Namen ist nicht nur der letztlich erfolglose Kampf gegen die 1938 schließlich erfolgte Enteignung des Konzerns durch den NS-Staat verbunden, sondern auch sein kulturzionistisches Engagement als Verleger (Schocken-Verlag, Ha’aretz) und Sammler in Berlin und Jerusalem. Peter Mettmann, der Enkel des älteren Simon Schocken, wünschte sich deshalb eine Biografie des unbekannten Großvaters. Diese hat nun die Kulturwissenschaftlerin Claudia Kleemann, ergänzt um ein wirtschaftshistorisches Kapitel von Martin Ulmer, im Stuttgarter Schmetterling Verlag vorgelegt. Die detaillierte Darstellung fußt wesentlich auf einem unvollendeten Manuskript von Dr. Margarete Turnowski-Pinner, die von 1930 bis 1933 in leitender Funktion für den Wohlfahrtsfonds des Konzerns tätig war.

In zehn Kapiteln, schlicht der Chronologie folgend, beschreibt Kleemann Lebensweg und Lebenswerk des innovativen, aus bescheidenen Verhältnissen stammenden Unternehmers. Es führt von der Übernahme der Leitung des 1901 gegründeten Warenhauses Ury Gebrüder in Zwickau und der nur vier Jahre später erfolgten Gründung eines eigenen Kaufhauses im nahen Oelsnitz bis zur Expansion zur viertgrößten Warenhauskette in Deutschland mit Niederlassungen unter anderem in Chemnitz (1927), Cottbus (1913), Nürnberg (1926), Augsburg (1928) und Stuttgart (1926/1928). Machten bis zum Ersten Weltkrieg vor allem Warenhäuser in den sächsischen Mittelstädten das System Schocken aus, für das ein zentraler Wareneinkauf das Rückgrat bildete, so kam es nach Überwindung der Inflationskrise zur überregionalen Expansion, nun besonders in den süddeutschen Großstädten. Die Einführung von Hausmarken, an dem von Erich Mendelsohn designten Schocken-S erkennbar, bezweckten Marktunabhängigkeit und Wertbeständigkeit. Viele neue Geschäftsbauten mussten nun geplant werden und dabei konnte Simon Schocken seine Leidenschaft für Architektur ausleben. Die klaren, sachlichen Bauten Erich Mendelsohns – unvergessen ist in Stuttgart der kühn geschwungene Bau gegenüber vom Tagblatt-Turm – entwickelten sich zu Ikonen des Neuen Bauens. Diese architektonischen Leuchttürme zogen die Kunden in Massen an und riefen Umsatzrekorde hervor. Für Wesermünde, heute ein Stadtteil von Bremerhaven, wo sein Bruder Julius lebte, wurde Simon Schocken selbst gestalterisch tätig und entwarf die Trauerhalle für den dortigen jüdischen Friedhof. Ein weiterer Friedhofsbau in Landsberg an der Warthe folgte. Im Hamburger Israelitischen Familienblatt legte der liberale Jude, der sich als deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens verstand, 1929 seine Auffassung von jüdischer Architektur dar; die bis dahin übliche Architektur lehnte er als nicht eigenständig ab.

Vorbildlich war Simon Schockens betriebliche Sozialpolitik. Sie trug, wie das 1917 gegründete Erholungsheim für die damals schon über tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, zu deren Bindung an den Betrieb bei. Das soziale Engagement des umtriebigen DDP-Mitglieds zeigte sich aber auch bei der Förderung von sozialen Einrichtungen wie dem Krüppelheim und dem Taubstummenheim in Zwickau, zudem förderte er nach dem Krieg den genossenschaftlichen Siedlungsbau unter dem Motto Hilfe zur Selbsthilfe. Wenig glücklich war das Familienleben des erfolgreichen und sozial engagierten Unternehmers. Seine älteste Tochter starb als Kleinkind, seine Frau Rosa, geb. Ury, lebte die meiste Zeit in psychiatrischen Anstalten; auch seine zweite Tochter Hannah war psychisch sehr labil. Für sie erwarb er 1927 das Landgut Winkel. Salman Schocken ließ es später zu einer Lehrstätte für Jugendliche umgestalten, die sich dort auf ihre Auswanderung nach Palästina vorbereiteten. Für zwei später geborene nichteheliche Kinder soll Simon Schocken Zeit seines Lebens gesorgt haben.

Am 20. Oktober 1929 setzte ein Autounfall bei Hirschberg seinem Leben ein Ende. Der damals 55-jährige, erfolgreiche Unternehmer stand auf dem Höhepunkt seines Wirkens. Tatkraft, Organisationsgeschick und menschliche Zugewandtheit zeichneten ihn aus. Ein Mitarbeiter beschrieb Simon Schocken folgendermaßen: Es gab ein Problem, es war aber nie lange ein Problem. Er stand auf und löste den Knoten. Das Grab Simon Schockens befindet sich auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee.

Benigna Schönhagen

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