Titelbild eines Buches

200 Jahre Korntal – eine pietistische Gemeindegründung und ihr Umfeld.

Alexander Brunotte / Sigrid Hirbodian (Hg). Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 30. Jan Thorbecke Verlag, Ostfildern 2023. 352 Seiten mit zahlr. Abb. Hardcover 25 €. ISBN 978-3-7995-5530-2

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Den Institutionen erscheint es angesichts von Jubiläen oft reizvoll, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Dies kann auf unterschiedliche Weise geschehen. Die einen konfrontieren sich mit den kritischen Aspekten ihrer Geschichte, wie es der Schwäbische Heimatbund zu seinem 100-jährigen Bestehen unternahm, in anderen Fällen gerät die historische Betrachtung eher zur Selbstbeweihräucherung. In Korntal entschied man sich 2019 angesichts des 200-jährigen Bestehens der Brüdergemeinde, die Geschichte in einer Art Tagung Revue passieren zu lassen. Die für den Druck überarbeiteten Vorträge liegen nun als Buch vor, erschienen in den Tübinger Beiträgen zur Landesgeschichte, herausgegeben vom »Verein der Freunde und Förderer des Instituts für Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Tübingen e.V.«.

Die 15 Beiträge betreffen unterschiedlichste Aspekte der Geschichte Korntals und der Brüdergemeinde, von den Anfängen als fromme »Kolonie« um 1819 bis weit ausgreifend zur – pietistischen – »Weltmission«, etwa durch die Basler Mission (Klaus Wetzel), den religiös-separatistischen kommunitaristischen Gründungen in Nordamerika (Franziska Bechtel) und die württembergischen »Templer« in Palästina (Sabine Holtz); wobei in diesen Fällen die Einbeziehung in die Jubiläumsvorträge – trotz teilweiser Beteiligung von württembergischen Pietisten und Personen direkt aus Korntal oder wenigsten mit Kontakten dorthin – aufgrund der eher marginalen Verbindung zur Brüdergemeinde etwas aufgesetzt wirkt.

Höchst lesenswert ist der konzise Überblick von Norbert Haag zu Kirche und Staat in Württemberg im 19. Jahrhundert, der es dem Leser ermöglicht, die Geschichte Korntals im spezifischen historischen Umfeld des Königreichs zu sehen. Hermann Ehmer verortet eher schlaglichtartig im Folgenden die Koloniegründung frömmigkeitsgeschichtlich zwischen Separatismus und Erweckungsbewegungen. Danach führen Vorträge zur Entstehungs- und Wirtschaftsgeschichte Korntals (Alexander Brunotte) und der eigentümlichen, auf Nutzungsrechten an Grund und Boden und nicht auf individuellem Privatbesitz beruhenden Konstruktion der Korntaler Güterkaufsgesellschaft (Hans Müllerschön) oder der Beitrag zum »Töchterinstitut«, der höheren Mädchenbildung in Korntal seit 1821 (Brunotte) zur spezifisch Korntaler Geschichte zurück. Die Ursprünge des staatlichen evangelischen Lehrerinnenseminars in Markgröningen liegen ebenfalls im kirchlichen Umfeld (Petra Schad).

Es ist verständlich, dass bei Jubiläen die Feiernden mit Selbstbewusstsein und Zufriedenheit auf ideell oder materiell Erreichtes zurückschauen wollen. Fast völlig kritiklos sollte dies freilich nicht geschehen. Nicht dass der Leser aus der Fülle der veröffentlichten Daten und Fakten keinen Nutzen zöge, doch er muss im vorliegenden Band bis Seite 223 warten, bis der Archivar des Hauses Württemberg Eberhard Fritz in seinem Beitrag zur Korntaler Filialkolonie in Wilhelmsdorf die richtigen und wichtigen Worte findet und relevante Themen der Forschung benennt. Fritz fordert dazu auf, die Geschichte, in diesem Fall von Wilhelmsdorf, kritisch zu hinterfragen. Als Korrektiv zur »religiös motivierten Geschichtsschreibung« sei »der sozialgeschichtliche Ansatz wichtig«. An dem fehlt es aber den meisten Beiträgen des Bandes. Der starre Konservativismus der Brüdergemeinde etwa und die betonharte Fortschritts- und Liberalismusfeindlichkeit werden außer in den Beiträgen von Norbert Haag und Eberhard Fritz nicht thematisiert.

Aber war wissenschaftliche Kritik von den Veranstaltern der Vorträge überhaupt gewünscht? In Korntal herrschten einst anscheinend eitel Harmonie und Gottgefälligkeit der Werke; Krisen und Konflikte gab es nicht. Problematische Aspekte werden durch Nichterwähnen umschifft, wie etwa das mögliche, ja in Zeiten des Bekanntwerdens der in Korntal in den Jahrzehnten nach 1945 an Kindern und Jugendlichen verübten Misshandlungen sich nachgerade aufdrängende, kritische Hinterfragen der Tätigkeit der Korntaler »Knabenanstalten« oder der Waisenhäuser, die neben dem karitativen und missionarischen Impetus für die Pietistenkolonie große wirtschaftliche Bedeutung hatten. Nüchtern und kommentarlos erfährt man etwa, dass die Knabenzahl 1835 nach Ruhr- und Typhusepidemien (!) drastisch gesunken sei. Und so übernahm Schulmann Johannes Kullen halt das Töchterinstitut. Da passt es ins empathiefreie Bild, dass es bis heute keine Untersuchung gibt (so Fritz, S. 238, kritisierend), wie denn die »Triage« (Auswahl) der Armen Wilhelmsdorfs erfolgte, die von der Leitung der Kolonie Mitte/ Ende der 1840er-Jahre kurz und bündig nach Amerika ausgewiesen und »entsorgt« wurden.

Den meisten Vorträgen mangelt es etwas an wissenschaftlicher Distanz; sie neigen eher zur pietistischen Hagiographie denn zur wissenschaftlichen Aufarbeitung. Die landwirtschaftlichen Leistungen der Templer in Palästina etwa werden geschildert, ihre überschwängliche Zustimmung zum Nationalsozialismus und die Gründung von NSDAP-Ortsgruppen in den Templerniederlassungen aber schamhaft verschwiegen. Es geht auch anders: etwa bei Eberhard Fritz; und kritisch distanziert verweist Wilfried Setzler (Hermann Hesse und der Pietismus) auf die pietistische Strenge in Hesses Elternhaus, die bei Hermann Hesse zu einem in pietistischen Kreisen nicht ganz untypischen existenziellen Lebenskonflikt führte.

Die Aufnahme der Vorträge in die renommierte und weltanschaulich unabhängige Publikationsreihe der Bausteine erstaunt ein wenig. Die im Vorwort angekündigte »wissenschaftliche« Tagung – nämlich unter modernen Fragestellungen – muss noch stattfinden. Die Ergebnisse wird der Rezensent dann gerne hier vorstellen.

Raimund Waibel

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