Titelbild eines Buches

Queer durch Tübingen. Geschichten vom Leben, Lieben und Kämpfen.

Evamarie Blattner, Wiebke Ratzeburg und Udo Rauch (Hrsg.), Katalog zur Ausstellung im Stadtmuseum Tübingen, 25. September 2021 bis 13. März 2022. Universitätsstadt Tübingen, Fachbereich Kunst und Kultur 2021. 360 Seiten mit zahlreichen, meist farbigen Abbildungen. Broschur 17,50 €. ISBN 978-3-941818-45-3

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Wer den material- und aufschlussreichen Katalog zur Ausstellung gelesen hat, kann sich das Kunstwort mit den vielen Konsonanten merken! LSBTTIQ steht für lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell, transgender, intersexuell und queer – kurz, für sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten, die sich außerhalb der Hetero-Norm bewegen. Anhand von Fotos, Briefen, Tagebuchauszügen, Erinnerungsgegenständen, Archivalien und Zeitzeug*innen-Interviews wird die unerzählte queere Geschichte Tübingens vom 16. Jahrhundert bis heute erstmals in den Blick genommen und verortet: beim Amts- und Landgericht und in der Universität, wo Rechtsgeschichte geschrieben wurde, in der Nervenklinik, wo man die »Krankheit« der gleichgeschlechtlichen Liebe mit Elektroschocks und anderen fragwürdigen »Therapien« behandelte, aber auch bei Treffpunkten, Freiräumen und Begegnungsorten, von denen Zeitzeug*innen berichten.

»Queering the Archives« heißt ein neuer geschichtswissenschaftlicher Forschungsansatz, der nach verschollenen Zeugnissen queerer Lebensweisen sucht und dabei bemerkenswerte Funde macht: so etwa Gerichtsakten zum Homosexuellen-Paragraph 175 aus der Vor- und Nachkriegszeit im Staatsarchiv Sigmaringen. Oder Liebesbriefe des männerliebenden württembergischen Kronprinzen Karl aus seiner Studentenzeit in einem Adelsarchiv. Im Universitätsarchiv fanden sich frühneuzeitliche Rechtsgutachten zur »Sodomie« (so die Sammelbezeichnung für alle nicht der Fortpflanzung dienenden sexuellen Handlungen), einem todeswürdigen Verbrechen damals. Dort liegen auch Akten über die Aberkennung von Doktorgraden bei verurteilten Homosexuellen während des Nationalsozialismus und Disziplinarakten aus den Jahren 1950 bis 1961, denn die Straf- und Verfolgungspraxis des NS gegen die »175er« ging in der jungen Bundesrepublik nahezu bruchlos weiter. Wurde ein Student verurteilt, informierte das Gericht die Universität. Dort musste er sich einem Disziplinarverfahren stellen, das mit seiner Relegation enden konnte. Noch um die Mitte des 20. Jahrhunderts wurden auf diese Weise Karrieren und bürgerliche Existenzen zerstört. Dem Berliner Historiker Karl-Heinz Steinle, dem Tübinger Stadtarchivar Udo Rauch und zahlreichen weiteren Autor*innen des Bandes ist es gelungen, aus solchen, vielfach aus Repressionszusammenhängen stammenden Quellen ein Stück queere Lebenswelt zu erschließen.

Der Katalog dokumentiert aber nicht nur ein innovatives Forschungsprojekt, bei dem Stadtmuseum, Stadtarchiv und die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld zusammengewirkt haben, um das historische, soziale und kulturelle Spektrum des Themas aufzufächern. Er ist auch ein faszinierendes Lesebuch über ein dunkles Kapitel Geschichte, das erst in den letzten Jahrzehnten heller wird. Menschen, die diskriminiert und ausgegrenzt waren, sollen vom Rand in die Mitte der Stadtgesellschaft geholt werden. Im Zentrum stehen daher 26 queere Schicksale aus zwei Jahrhunderten, jedes auf seine Art aufschlussreich und zu Herzen gehend. In chronologischer Abfolge zeigen sie auch den Wandel, der sich vollzogen hat.

Es sind prominente (Wahl-)Tübinger*innen vertreten, wie der Literaturwissenschaftler Hans Mayer. Verfolgt als Jude, Kommunist und Homosexueller fand er hier eine »zweite Heimat in der Fremde«. Der spätere hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der die Auschwitz-Prozesse initiierte, studierte 1923/24 in Tübingen, wo seine Großeltern bis zur »Arisierung« ein Konfektionsgeschäft betrieben. Der Widerstandskämpfer Hans Scholl war Sanitätsschüler und Gasthörer. Die Sexualwissenschaftlerin Charlotte Wolff machte, nachdem sie zunächst die provinzielle Ruhe genossen hatte, hier ihre erste Ausgrenzungserfahrung. Die in Tübingen aufgewachsene Schauspielerin und Kabarettistin Maren Kroymann debütierte 1968/69 am Zimmertheater.

Erzählt wird auch die Liebesgeschichte eines jungen polnischen Zwangsarbeiters zu einem Tübinger Kaufmann, von dem das Stadtarchiv ein Bändchen eigener Gedichte aus dem Gefängnis besitzt. Oder vom Kampf des Jurastudenten Peter Leibßle, eines schwulen Aktivisten avant la lettre. Standhaft wehrte er sich während der 1960er-Jahre gegen einen Paragraphen, den er für Unrecht hielt. Als ihm die Fortsetzung seines Studiums verweigert wurde, klagte er sich durch alle Instanzen, bis zum Bundesverfassungsgericht – ohne Erfolg.

Der Quellenlage geschuldet, handeln diese biografischen Skizzen häufig von Männern liebenden Männern. Doch auch Lebensgemeinschaften von Frauen haben sich finden lassen, so die der vergessenen Bestsellerautorin Anna Schieber mit Marie Cauer, einer »Pionierin der Krankenpflege«, oder Julie Gastl und Gudrun Schaal, die gemeinsam die legendäre Buchhandlung Gastl betrieben.

Basierend auf Interviews, die in Kooperation mit der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld entstanden, kommen in jüngster Zeit auch Zeitzeug*innen in eigener Sache und mit eigener Stimme zu Wort: Aktivist*innen der Emanzipationsbewegungen seit den 1970er-Jahren, Kirchenfrauen und Schulmänner, der Zeitungsverleger Christoph Müller und Claudia Gehrke, deren Konkursbuchverlag zu den wichtigsten Adressen für queere Literatur gehört. Im langen Leidensweg der Transfrau Marianne, die Mitte der 1990er-Jahre ihre Geschlechtsumwandlung durchsetzte, und in den Erfahrungen eines transsexuellen Schülers von heute spiegelt sich der Wandel in der Gesellschaft zu größerer Offenheit. Wo früher ein Verweis von der Uni zu befürchten stand, gibt es heute zahlreiche Anlaufstellen für queere Studierende. Und nicht mehr das Verstecken und die Verfolgung sind die großen Themen, sondern Sichtbarkeit und Anerkennung queerer Lebensweisen.

Dorothea Keuler

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