Titelbild eines Buches

Michael Uhl: Betty Rosenfeld – Zwischen Davidstern und roter Fahne

Schmetterling Verlag Stuttgart 2022, 672 Seiten, zahlr. Abbildungen, Hardcover 39,80 Euro. ISBN 978-3-89657-036-6

Titelbild eines Buches

Uhls Erzählbogen spannt sich von Hof­fenheim (heute Rhein-Neckar-Kreis), wo die Vorfahren der Rosenfelds herkom­men, bis Oakland/Kalifornien. Die Be­trachtungen führen zunächst nach Stutt­gart, wo der Vater als kleiner Unterneh­mer sein Glück suchte. Im Detail werden die familiären Verhältnisse geschildert, wird nicht an lokalem Kolorit gespart. Die Machtergreifung Hitlers versprengt die Familie. Betty Rosenfeld reist 1935 nach Palästina, kehrt von dort wieder zu­rück, um im Spanischen Bürgerkrieg als Krankenschwester zu helfen, begibt sich angesichts der kommenden Niederlage der Republikaner in die trügerische Si­cherheit Frankreichs, wird interniert und nach der deutschen Besetzung ins Vernichtungslager verschleppt. 1942 verliert sich ihre Spur. Ihr Leben, so kurz es mit 35 Jahren war, wächst sich im Buch auf 672 Seiten aus. Das rührt auch daher, dass sich der Autor nicht allein ihrer Geschichte annimmt, sondern ein epochales Bild zeichnet.

Zwar lautet der Buchtitel Zwischen David­stern und roter Fahne, doch Bettys Aus­wanderungs-Episode nach Palästina – also unter den Davidstern – nimmt im Buch nur sechzehn Seiten ein. In Nahost hat sich Betty Rosenfeld offenbar eher als Touristin, denn als Zionistin aufge­halten. Dennoch hätte man mehr lesen mögen über das Palästina Mitte der 1930er-Jahre, als Großbritannien noch Mandatsmacht war und Menschen unter­schiedlicher Religion in einem Gebiet lebten, das bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zum Osmanischen Reich ge­hört hatte.

Umso üppiger werden Bettys Jahre unter der roten Fahne ausgemalt. Mit diesem Gemälde holt Uhl eine Frau zurück in unsere Gegenwart, die für ihre kommu­nistische Überzeugung lebte und starb.

Den spanischen Bürgerkriegsschauplatz, den Betty 1937 betritt, leuchtet der Autor geradezu gleißend aus. Ebenso die fran­zösischen Internierungslager: Nach dem Motto »Die Wahrheit steckt im Detail« folgt er ihren Spuren, auch auf allen Nebenpfaden und übt sich im »Name-dropping«, wenn die Rede von Hans Beimler oder Lieselotte Hermann ist. Mit beiden kam Betty Rosenfeld in Spanien zwar nicht persönlich in Kontakt, aber es sind Prominente, die für legendäre Le­bensgeschichten stehen: Beimler, als deutscher Polit-Kommissar des Thäl­mann-Bataillons der XI. Internationalen Brigade, starb im Dezember 1936 in Ma­drid durch eine Kugel. In der DDR als He­roe gefeiert, dem Straßen, Lieder und Filme gewidmet wurden, sind bei westli­chen Historikern wie Patrik von zur Mühlen Zweifel an dem Heldentod laut geworden. Beimler sei der KPD »unbe­quem geworden«, in der »Verfolgungs­hysterie der Stalin-Zeit« hält er einen in­szenierten Tod an der Front durchaus für denkbar. Michael Uhl argumentiert hingegen, dass Akten und Archive nichts hergeben, was eine solche Vermutung nahelegt.

Lieselotte Herrmann wiederum, die kommunistische Widerstandskämpferin aus Berlin, die 1938 in Plötzensee hinge­richtet wurde, ist nicht zuletzt durch ein Foto, das sie 1935 mit ihrem kleinen Sohn im Gefängnis zeigt, der Geschichts­schreibung bekannt (S. 327).

Michael Uhl schlägt sich behände durchs Labyrinth des Spanischen Bürgerkriegs, reportiert die Ereignisse auf den Schlachtfeldern und in der Etappe, wo Betty Rosenfeld als Krankenschwester auf Seiten der Republikaner half. Im re­publikanischen Lager wimmelte es von verschiedenen politischen Identitäten. Deren Einordnung, die Kenntnis der mi­litärischen Terminologie, die Schilde­rung wechselnder Frontverläufe, unter­schiedlichster Formationen, Einheiten, Großverbände und ihrer Gliederungen: Das alles weist den Autor als Fachmann aus. Es ist eine Romanbiografie, in der die »Requisiten« haarklein stimmen. Jede Uniform, jede Kopfbedeckung, je­des Lied, jede Fahne, jedes Emblem, jede militärische Einheit, jeder Dienstgrad, jeden Schauplatz, jedes Kriegsflugzeug, ob deutsch oder russisch: Uhl kennt sich aus und nennt die Dinge beim Namen. Hinter dem Vordergrund der kommunis­tischen Krankenschwester Betty türmt sich so im Hintergrund ein kolossales Geschichtsgebirge auf. Beschrieben von einem peniblen Autor, von dem man nicht weiß, ob man ihn detailgenau oder eher detailverliebt nennen möchte. Selbst das Kaliber der Pistole, die ein Stuttgarter KPD-Genosse 1934 samt sechs Patronen in seiner Schusterwerk­statt versteckt hielt, nennt er: »Mauser Mod. 1910 Kal. 6,35 mm« (S. 225). Uhl wartet mit verblüffenden Informationen auf, beschreibt haargenau die russi­schen Flugzeug-Typen, die Stalin als Unterstützer der Republikaner ins Tref­fen führte, und erstaunt mit dem Um­stand, dass Hitler seine Legion Condor (auch) mit Ju 52-Flugzeugen ausgestattet hatte, die Bomben warfen. Das ist heute nur noch Spezialisten bekannt, denn im Zweiten Weltkrieg dienten diese Maschi­nen kaum mehr als Bomber, sondern als Transportflugzeuge. Dass der spanische Kriegsschauplatz ein Versuchsfeld für die Erprobung von Waffen galt, ist hin­länglich bekannt. Uhl bestätigt dies.

Seiner nüchternen Daten- und Archiv-basierten Forschung fügt er romanhafte, erzählerische und gelegentlich wohl er­fundene Szenen bei. Etwa wenn sich zum abendlichen Ausgang ein »pausbäckiger Genosse« ein rotes Tuch um den Hals bindet, oder seine Genossin ein Kostüm mit Hahnentrittmuster trägt. Er schöpft da aus Archivalien und Fotografien, die er »wie besessen« an vielen Orten aufge­tan hat – viel Bildmaterial findet sich im Buch. Außerdem ein 80-seitiger Anhang mit Anmerkungen, Bildnachweis, Quel­len, Personenregister etc. Uhl belegt da­mit einen wissenschaftlichen Anspruch. Andererseits erinnert sein Werk an Sil­via Tennenbaums Yesterday‘s Streets. (Random House, New York 1981). Deren (jüdische) Familiensage, auf Deutsch: Straßen von gestern ist ähnlich weitläufig und vielgründig angelegt, wie die Rosen­feld’sche. All die Namen, Lebensläufe, Schauplätze fordern die Leserin, den Le­ser. Sämtliche Milieus, alle Handlungs­stränge ständig im Kopf parat zu haben, ist eine Herausforderung. Dieses Buch en passant zu lesen, ist schlecht möglich, es bedeutet Arbeit, denn es ist ein Ge­schichtsbuch im wahrsten Sinn des Wor­tes. Ob es für jüdische Familien in Euro­pa wieder an der Zeit ist, die Koffer zu packen, wie Betty und ihre Schwester in den 1930er-Jahren gezwungen waren, es zu tun? Uhl sinniert am Ende des Bu­ches, dessen 1. Auflage 2022 erschienen ist, weitsichtig darüber. Und erweist sich damit, spätestens angesichts der Ereig­nisse seit Oktober 2023 in Nahost, aber auch in Deutschland, als düsterer Pro­phet.

Reinhold Fülle

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