Hrsg. von Nigel F. Palmer, Peter Rückert und Sigrid Hirbodian. Verlag de Gruyter Berlin/Boston 2023. 549 Seiten. Hardcover 119,95 €. ISBN 978-3-11-077824-3
Der Band geht zurück auf das sechste Treffen des Arbeitskreises »Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens im späten Mittelalter« im Jahr 2018 in Tübingen, das sich mit Württemberg auseinandersetzte. In früheren dieser von dem britischen Mittelaltergermanisten Nigel F. Palmer (Oxford) und dem Freiburger Germanisten Hans-Jochen Schiewer geleiteten Arbeitsgruppe ging es um »die großen Städte am Oberrhein, Basel und Straßburg, als Zentren der Kulturlandschaft« (S. IX). Noch vor Drucklegung des vorliegenden Bandes verstarb Nigel F. Palmer überraschend, so ist ihm der Band gewidmet.
Es geht in dem Sammelband vor allem um »Literatur und Buchkultur an Klöstern und Höfen im späteren Mittelalter«. Dabei liegt der Fokus auf den »historischen Verflechtungen zwischen den politischen und kulturellen Zentren Württembergs, seiner Herrschaften und Höfe mit den benachbarten Klöstern und Reichsstädten«. Es geht um die »literarische Produktion und Rezeption« sowie um »Medialität und Identität« (S. 2).
Nun denkt man bei den Stichworten Literaturproduktion, Buchkultur, Medialität und ihre entsprechende Rezeption nicht zwingend an Württemberg und seine fürstlichen Zentren; die württembergischen Grafen und frühen Herzöge sind nicht unbedingt als literarische Mäzene und ihre Höfe nicht unbedingt als literarische Produktionsstätten bekannt. Hier taten sich deutlicher die Reichsstädte hervor, die aufgrund ihrer engen kulturellen Verflechtungen im vorliegenden Sammelband ebenfalls mit zahlreichen Aufsätzen vertreten sind. Ähnliches gilt für die Klöster, die zwar unter württembergischer Schirmherrschaft lagen, deren literarisches Engagement aber eher in ihrer Ordenszugehörigkeit und dem entsprechenden kulturellen Selbstverständnis zu suchen ist als in einer politischen Verbundenheit. Insofern ist der konzentriertere Blick auf die Literaturproduktion in der Grafschaft bzw. dem Herzogtum Württemberg eine erfreuliche Weitung der Perspektive, die längst überfällig war – denn es stellt sich heraus, dass einzelne Württemberger hier durchaus literarische Interessen verwirklichten, auch wenn sie natürlich an manch andere Höfe im deutschsprachigen Raum, so dem Hof der thüringischen Landgrafen oder dem Hof der Babenberger in Wien, wenn auch zu anderen Zeiten, nicht heranreichten.
So geht es gleich in zwei Beiträgen um das literarische Engagement der Margarethe von Savoyen, der Frau des Grafen Ulrich des Vielgeliebten von Württemberg. Anja Thaller (»Zur Buchkultur am spätmittelalterlichen württembergischen Hof. Buchbesitz und literarische Interessen der Margarethe von Savoyen [1420–1479] im Spiegel ihrer Briefe«, S. 67–109) wertet den Briefwechsel Margarethes aus, um Zu- und Abgänge, Schenkungen und Auftragsarbeiten ihrer Büchersammlung zu identifizieren. Kristina Domanski (»Der Schwanenritter in Württemberg. Historie und Gegenwart in der ›Lohengrin‹-Handschrift der Margarethe von Savoyen«, S. 111–156) hingegen konzentriert sich auf eine einzelne Handschrift aus Margarethes Sammlung aus kunsthistorischer Perspektive. Aus dem höfischen Kontext stammen auch die Reflexionen über die höfische Liebe, die Minnerede »Die Mörin« des im Dienst der württembergischen Grafen stehenden Hermann von Sachsenheim (gest. 1458), die Mechthild von der Pfalz, in erster Ehe verheiratet mit Graf Ludwig I. von Württemberg, gewidmet war. Annette Volfing (»The Orient in Württemberg. The Topographies of Hermann von Sachsenheim«, S. 47–65) interpretiert diese Rede als »Persiflage auf die zeitgenössischen Minnereden mit konkreten Anspielungen« (S. 5) auf den schwäbischen Raum.
An die Schnittstelle zwischen klösterlicher Wissensvermittlung und höfischer Kulturrezeption, respektive zwischen religiösen und medizinisch-naturkundlichen Inhalten tritt das Gütersteiner Gesprächsbüchlein, das in der Mitte des 15. Jahrhunderts wohl von Mitgliedern der Kartause Güterstein für den württembergischen Hof in Urach entstand, und das hier in seiner Vielseitigkeit und in seinem Beziehungsreichtum von Martina Backes vorgestellt wird (»Wissen für den Hof. Das Gütersteiner Gesprächsbüchlein«, S. 37–46).
Eine ganze Reihe von Beiträgen widmet sich schließlich dezidiert der klösterlichen Literaturproduktion. So beleuchtet Stephen Mossman die literarische Kultur im Dominikanerinnenkloster Reutin in Wildberg, indem er die bisher bekannten Handschriften und Inkunabeln katalogisiert, die Schreiberinnen identifiziert, aber vor allem die Bedingungen von literarischer Produktion in einem württembergischen Dominikanerinnenkloster entfaltet, die beispielsweise durch den aufkommenden Buchdruck, aber natürlich auch, so wie bei den Dominikanerinnen in Nürnberg, auf Grund veränderter Frömmigkeit durch eine strengere Auslegung und Anwendung der Ordensregeln (Observanz) stark beeinflusst wird (»The literary culture of the Dominican Women in late medieval Germany. Reutin near Wildberg on the Nagold«, S. 157–281). Tjark Wegner betrachtet die Beschreibungen der schwäbischen Klöster des Ulmer Dominikaners Felix Fabri (um 1438/1439–1502), die er in einer Geschichtlichkeit darstellt, die in monastischen Reformen, also der Observanz mündet, für die er selbst eintritt und die er im schwäbischen Raum auch massiv gefördert hat (»Die Edelsteine der schwäbischen Krone. Klosterdarstellungen in Felix Fabris lateinischen Schriften«, S. 313–343). Mit Esslingen beschäftigen sich gleich zwei Beiträge. Claire Taylor Jones stellt eine deutsche Übersetzung eines dominikanischen Ordinariums vor, das die liturgischen Ordnungen enthält, die im Dominikanerkloster Weiler in Esslingen in Zeiten der Observanz im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts Verwendung fanden (»Liturgical manual – liturgical norms. Reforming the liturgy in Kloster Weiler OP in Esslingen«, S. 283– 312), während Anne Winston-Allen den literarischen Vorlagen des Freskos mit der Darstellung der Alexiuslegende in der gotischen Esslinger Frauenkirche nachgeht (»The ›Alexiuslegende‹ in Esslingen. The bride of St Alexius in medieval images and texts«, S. 457–485).
Racha Kirakosian widmet sich der Geschichte des prämonstratensischen Doppelklosters in Adelberg, als in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts der Frauenkonvent abgelöst und nach Lauffen transferiert werden sollte, und um die Rolle der Gräfin Katharina von Württemberg (1441–1497) darin, die als Adelberger Prämonstratenserin von den Geschehnissen unmittelbar betroffen war (»Gräfin Katharina von Württemberg und die oberschwäbischen Doppelklöster der Prämonstratenser im Mittelalter«, S. 345–384). Eckart Conrad Lutz nimmt die beiden Kapiteloffiziumsbücher des Klosters Zwiefalten aus der Mitte des 12. Jahrhunderts in den Blick und erkennt hier eine Veränderung des »kollektiven Selbstverständnisses« (S. 415) und wie sich dieses in beiden Exemplaren auf unterschiedliche Weise manifestiert (»Konstruktionen monastischer Identitäten. Zu den Kapiteloffiziumsbüchern aus Zwiefalten und den ›Libri‹ Ortliebs und Bertholds«, S. 385–455).
Den Sammelband beschließt Katrin Sturm, die Ergebnisse eines Handschriftenkatalogisierungsprojekts von theologischen Handschriften vorstellt, die 1993 aus der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen in die Badische Landesbibliothek in Karlsruhe gelangten (»Württembergisches in Donaueschinger Handschriften? Unbekanntes Quellenmaterial aus Württemberg im Bestand der ehemals Donaueschinger Handschriften der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe«, S. 487–522). Gerade unter diesen Theologica finden sich unter den zahlreichen Handschriften mit oberrheinischem Bezug auch einige solche mit Verbindungen zu Württemberg und württembergischen Klöstern. Am Beispiel einer Handschrift ursprünglich aus dem Augustinerinnenkloster Inzigkofen kann sie das Beziehungsnetzwerk aufzeigen, auf dem die Entstehung der Handschrift basiert und zur Erkenntnis führt, »dass Württemberg als Kulturraum keineswegs als abgeschlossen zu betrachten ist« (S. 521).
Fazit: Die vielfältigen und profunden Beiträge des Sammelbandes zeigen Württemberg als eine vitale Kulturlandschaft, die weit über die territorialen Grenzen der Grafschaft bzw. später des Herzogtums hinausreicht, Impulse aufnimmt und weitergibt, dabei sich Ordenszugehörigkeiten verpflichtet oder höfisches Selbstverständnis grundsätzlich tradiert. Es bleibt zu hoffen, dass Württemberg innerhalb der Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens weiter Thema bleibt – der Sammelband macht deutlich, dass es sich lohnt.
Carsten Kottmann
Views: 101