Politische, gesellschaftliche und marktwirtschaftliche Wandlungen im württembergischen Agrarsektor 1848–1914
(Veröffentlichungen der Kommission für geschichtl. Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B, Band 230). Thorbecke Verlag Ostfildern 2022. 379 Seiten. Hardcover 35 €. ISBN 978-3-7995-9579-7
Es mag überraschen, aber die Geschichte der Landwirtschaft in Württemberg im 19. Jahrhundert war bis vor Kurzem ein Desiderat der Forschung (S. 5). In seiner umfangreichen Studie über Die Centralstelle des Württembergischen landwirtschaftlichen Vereins befasste sich Rainer Loose 2018 mit der württembergischen Landwirtschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Dissertation von Steffen Kaiser schließt zeitlich daran an und behandelt den Zeitraum bis 1914. Die Arbeit wurde durch Sabine Holtz, Universität Stuttgart, und Gert Kollmer-von Oheimb-Loup († 2021), Universität Hohenheim, betreut.
Die Hungersnot von 1816/17 hatte die strukturellen Defizite der württembergischen Landwirtschaft offengelegt und war der Anstoß für Reformen. Ein weiterer Reformschub erfolgte 1848/49 mit der Ablösung von Zehnt- und Grundherrschaft und weiterer feudaler Lasten.
Als die wichtigsten staatlichen agrarpolitischen Akteure stellt der Autor die »Zentralstelle für die Landwirtschaft«, seit 1848 eine staatliche Behörde, und den »Landwirtschaftlichen Verein in Württemberg« vor, geht aber ebenso auf den Deutschen Landwirtschaftsrat und die Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft ein.
Das wichtigste Mittel zu Verbesserungen in der Landwirtschaft ist für Kaiser das landwirtschaftliche Bildungswesen. Dazu zählt er nicht nur die 1818 gegründete Landwirtschaftliche Akademie Hohenheim, er betont vielmehr die Bedeutung der »Basis-Ausbildung« der Landwirte, für die es das Angebot einer dreijährigen Ausbildung in den vier, zwischen 1818 und 1850 gegründeten Ackerbauschulen gab. Diese waren zwar kostenlos, allerdings war es vielen Kleinbauern unmöglich, für mehrere Jahre auf ihre Söhne als Arbeitskraft zu verzichten. Eine größere Akzeptanz erreichten deshalb die zahlreichen landwirtschaftlichen Winterschulen, die nur in den Wintermonaten, also außerhalb der landwirtschaftlichen »Hauptsaison«, stattfanden. Zusätzlich wurde in Weinsberg eine Weinbauschule sowie in Hohenheim eine Gartenbauschule (für den Obstbau) gegründet.
Ein besonderes Augenmerk richtet der Autor auf das bislang von der Forschung erst wenig beachtete »Bodenkulturgesetz«, die gesetzliche Regelung der Feldbereinigung. Bis Ende des 19. Jahrhunderts fehlte ein Netz von Feldwegen, strahlenförmig von den Dörfern führten lediglich einige Hauptfeldwege in die Feldflur. Um auf die eigenen Grundstücke zu gelangen, mussten die Bauern über fremde Grundstücke fahren, was vielfach Konflikte auslöste. Aus diesem Grund herrschte Flurzwang, d. h. auf einer Flur mussten alle Bauern dieselben Produkte anbauen, sodass zur selben Zeit ausgesät und zur selben Zeit geerntet werden konnte. Dies erforderte eine genaue Koordination und verhinderte vielfach die Bereitschaft zu Innovationen. Dennoch dauerte es viele Jahrzehnte, bis 1886 in Württemberg ein »Bodenkulturgesetz« verabschiedet wurde, das den Gemeinden die Anlage eines Feldwegenetzes und die dafür erforderliche Feldbereinigung vorschrieb, sodass jede Parzelle von zwei Seiten angefahren werden konnte. Trotz der Vorteile erwies sich die Durchführung dieser Feldbereinigung als sehr mühsam, sodass sie sich über mehrere Jahrzehnte hinzog.
Seit den 1870er-Jahren lässt sich für Württemberg eine Globalisierung des Agrarmarkts feststellen; dies hatte mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes, aber auch den Transportmöglichkeiten auf dem Seeweg zu tun. Einerseits verfielen dadurch die Getreidepreise aufgrund der billigen Konkurrenz aus Russland und den USA – Schutzzölle halfen hier nur bedingt –, andererseits verbesserte das Schienennetz die Transportmöglichkeiten für Fleisch und Milch, zumal die Nachfrage seitens der Stadtbevölkerung stieg. Aus diesem Grund verstärkten viele Bauern die Viehhaltung, die neben höheren Gewinnen steigende Düngermengen versprach. Stark rückläufig war hingegen die einst für Württemberg so bedeutende Schafhaltung. Dies hing nicht nur mit der ausländischen Konkurrenz, sondern auch mit der für die Schäferei nachteilige Aufhebung der Allmenden zusammen.
Die Mechanisierung der Landwirtschaft blieb in Württemberg hingegen auf niedrigem Niveau und beschränkte sich hauptsächlich auf die Einführung von Dreschmaschinen. Größere Bedeutung hatte dagegen die Gründung von Darlehenskassen als landwirtschaftliche Kreditgenossenschaften: 1913 war ihre Zahl in Württemberg auf 1256 angestiegen.
In seinem Fazit sieht Steffen Kaiser als treibende Kräfte für Veränderungen zunächst die staatlichen Reformen in Form der gesetzlich vorgeschriebenen Ablösung der feudalen Lasten, der Gründung landwirtschaftlicher Bildungseinrichtungen sowie der Durchführung des Bodenkulturgesetzes, seit dem späten 19. Jahrhundert stellt er hingegen den Markt als einen starken Katalysator agrarischer Wandlungsprozesse dar.
Insgesamt sei zu dieser Arbeit gesagt: Wer sich für die Geschichte der Landwirtschaft, gerade auf örtlicher Ebene interessiert und nach Zusammenhängen und Hintergründen sucht, für den ist die Arbeit von Steffen Kaiser eine wahre Fundgrube und kann sehr empfohlen werden.
Nikolaus Back
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