Titelbild eines Buches

Matthias Erzberger. Für Demokratie und gegen den Obrigkeitsstaat

Hrsg. vom Geschichtsverein der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Thorbecke Verlag Ostfildern 2023. 200 Seiten mit 30 Abb. Paperback 16,90 €. ISBN 978-3-7995-1987-8

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Basis dieses Buchs ist eine vom Geschichtsverein der Diözese Rottenburg-Stuttgart und vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg ausgerichteten Tagung am 20. März 2021, die wegen der Pandemie digital stattfand. Ihr Anlass war die Ermordung von Matthias Erzberger vor hundert Jahren. Das Buch versammelt die Beiträge von Gabriele Clemens, Christopher Dowe, Maria E. Gründig, Anna Karla, Jörn Leonhardt, Stefanie Middendorf und Jörg Zedler (»Matthias Erzberger und der italienische Intervento 1915«).

Matthias Erzberger, dem 1918 die undankbare Aufgabe zugefallen war, als Leiter einer deutschen Delegation in einem Waldstück der Gemeinde Compiègne, wo sich bis März 1918 der Sitz des Alliierten Oberkommandos befunden hatte, unter demütigenden Bedingungen die von der »Entente« diktierten harten Waffenstillstandsbedingungen zu unterzeichnen, ist in der Folge zur Hassfigur in Deutschland geworden. Die Unterzeichnung und seine Person wurden von rechten Kreisen kritisiert. War es allein diese Unterschrift, die den Zentrumspolitiker Erzberger zu einem verfemten Politiker seiner Zeit machten? Und das, obwohl er als Katholik, als Politiker, als Minister und Vizekanzler ein Wegbereiter deutscher Demokratie war? Dieser Frage gehen Autoren und Autorinnen nach. Der katholisch erzogene und geprägte Erzberger, aus Buttenhausen im Lautertal stammend, dessen Bevölkerung fast hälftig jüdisch und evangelisch war, wuchs in der Diaspora auf und erlebte erst später als Junglehrer in Oberschwaben eine rein katholisch geprägte Welt. Die Ablehnung und den Hass, den »Rechtskatholiken« Erzberger zeitlebens entgegenbrachten, verorten Gründig und Dowe in sozialgeschichtlichen Ursprüngen. Erzbergers Fundamentalpolitisierung der wilhelminischen Gesellschaft, sein Engagement als Arbeitersekretär für Dienstboten, Handwerksgesellen, Arbeiterinnen und Arbeiter beim Aufbau von katholischen Vereinen und christlichen Gewerkschaften sei auch innerhalb des Katholizismus, etwa bei Teilen des Adels und manchen bürgerlichen Kreisen auf Widerstand gestoßen, schreiben sie. Möglicherweise hat diese Fundamentalpolitisierung auch den Buchtitel hergegeben: Für Demokratie und gegen den Obrigkeitsstaat.

Gabriele Clemens widmet sich in ihrem Beitrag dem »Kampf der Rechtskatholiken gegen das Erzbergertum«. Sie zitiert ein Flugblatt vom Juni 1920, das zur Landtagswahl Württemberg in Stuttgart zirkulierte: »Erzberger ist das Verderben für das Zentrum, aber nicht nur für die Partei, sondern für unser ganzes Vaterland und vor allem für die katholische Kirche. Noch nach 50 Jahren wird man uns alle Dinge vorhalten, die Erzberger während des Krieges betrieben hat.« Anna Karlas Beitrag zum Problemfeld des Wiederaufbaus nach 1918 ist hochgradig interessant, zeigt er doch, »dass die biografische Forschung gut daran tut, den Erzberger der Weimarer Zeit nicht auf seine Rolle als Unterzeichner des Waffenstillstandsvertrags im Wald bei Compiègne und auf seine fraglos wichtige Amtszeit als Reichsfinanzminister zu reduzieren, sondern die ›Wako‹ (Waffenstillstandskommission) als persönliche Wirkungsstätte und als Seismograph für die Verwerfungen seiner Zeit mitzudenken. « (S. 122). Ihrer Ansicht nach »stellt sich deshalb auch eine Schlüsselfrage der Erzberger-Biographik an einem konkreten Beispiel neu: Führt man sich Erzbergers Engagement für den europäischen Wiederaufbau vor Augen, so steht die Frage im Raum, wie es der Reichstagsabgeordnete, Vorsitzender der Waffenstillstandskommission und Reichsminister mit der Wirtschaft hielt und was der ihm entgegenschlagende Vorwurf der Korrumpierbarkeit für sein politisches Handeln, sein persönliches Schicksal und die politische Kultur der Weimarer Republik bedeuten.«

Den Erzberger-Mördern und vor allem ihren Hintermännern in der Organisation »Consul«, widmet sich Christopher Dowe. Diese unterhielt zu jener Zeit konspirative Zellen und Bünde, die über Deutschland hinaus agierten und über willfährige Vollstrecker der Feme gebot. Dowe verweist im Weiteren auf die Grenzen der Ermittlungen und juristischen Aufarbeitungen nach dem Attentat angesichts einer Internationale des Rechtsterrorismus. Erzbergers Tod fügt sich ein in eine Reihe politischer Anschläge, denen 1922 auch der als »Erfüllungspolitiker« verunglimpfte Außenminister Walter Rathenau zum Opfer fiel. Anders als nach dem Mord an Rathenau, wo die Täter in einer Großfahndung ermittelt und im Schusswechsel mit der Polizei bzw. durch Selbstmord den Tod fanden, sind die beiden ehemaligen Offiziere, die Erzberger während eines Schwarzwald-Urlaubs im Wald von Bad Griesbach am helllichten Tag erschossen, nach der Tat nicht gefasst worden. Heinrich Tillessen und Heinrich Ernst Walter Schulz flohen zunächst mit Hilfe ihrer Organisation ins Ausland, wohl über München nach Österreich und Ungarn. Ihr weiteres Schicksal lässt sich anhand von Fußnoten (S.155/156) nur erahnen. Der Autor setzt offenbar voraus, dass allgemein bekannt ist, wo und wie die beiden mehr als zehn Jahre lang lebten, ehe sie von Hitler amnestiert wurden. Auch die Umstände, unter denen sie nach dem Zweiten Weltkrieg dingfest gemacht wurden, die juristische Aufarbeitung des Mords in der Bundesrepublik Deutschland, ihre Aussagen vor Gericht, die verhängten Strafen und ihre weiteren Lebensentwürfe nach ihrer (zügigen) Haftentlassung, wären der Information wert gewesen, denn die Mörder waren noch lange unter uns: Schulz bis 1979, Tillessen bis 1984.

Reinhold Fülle

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