Stadt Münsingen (Hrsg.) Mit Beiträgen von Eberhard Zacher und Yannik Krebs.
Münsingen 2023. 177 Seiten, zahlr. Abbildungen. Hardcover € 25. ISBN 978-3-9813648-7-3
Die Schwäbische Alb ist nicht nur eine Kulturlandschaft, sondern auch eine Erinnerungslandschaft jüngerer deutscher Geschichte. Der Truppenübungsplatz Münsingen war ein Zentrum der Kriegstreiberei, in Grafeneck ermordeten die Nazis 10.654 Menschen bei der »Euthanasie-Aktion T 4«, in Buttenhausen wurde die jüdische Bevölkerung ausgelöscht. Heute bilden im Münsinger Ortsteil Buttenhausen gleich drei Museen eine Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart: Das Jüdische Museum, die Erinnerungsstätte für den in Buttenhausen geborenen Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, das Living Museum mit Ateliers für Künstlerinnen und Künstler mit und ohne Behinderung. Zudem soll in absehbarer Zeit in Münsingen und Buttenhausen das Werk des Universaltalents Gustav Mesmer, der den Nationalsozialismus überlebte, präsentiert und bewahrt werden. In einer Stadt mit 15.000 Einwohnern ist das ein Zeichen für eine höchst ambitionierte und entschiedene Kulturpolitik!
Vor zehn Jahren wurde die Dauerausstellung in der Bernheimer’schen Realschule zum Jüdischen Museum umgestaltet und didaktisch neu konzipiert. Nun ist auch der seit langem vergriffene Begleitband Juden in Buttenhausen unter dem Titel Jüdisches Leben in Buttenhausen neu aufgelegt worden. Teilweise wurden die knappen und prägnanten Texte übernommen, daneben weitere Themen aufgenommen. Ein Aufsatz über jüdische Sprache ist entfallen, der »Gang durch Buttenhausen« entlang geschichtsträchtiger Häuser ist den Stolpersteinstellen gewichen. Zudem gibt es ein Kapitel über jüdische Feiertage und mehrere Kurzbiografien, bislang unveröffentlichte Briefe und Dokumente machen Schicksale nachvollziehbar. Ein wesentliches Kapitel gilt der Zeit nach 1945 mit der Errichtung von Denkmälern, mit Gedenkfeiern, Besuchen Überlebender und ihrer Nachfahren, schließlich mit der Museumseinrichtung und Verlegung von Stolpersteinen.
Das idyllisch im Lautertal gelegene Buttenhausen gilt in der Forschung, etwa in Utz Jeggles grundlegender Arbeit über Judendörfer in Württemberg, als exemplarisches Beispiel einer jüdischen Landgemeinde. Deren Anfänge gehen aufs Jahr 1787 zurück, als der Freiherr von Liebenstein, der zuvor für Jebenhausen bei Göppingen einen Judenschutzbrief erlassen hatte, auch in seiner Reichsritterherrschaft Buttenhausen 25 jüdischen Familien die Ansiedlung erlaubte. Für sie schien sich ein Weg zur Emanzipation zu öffnen, 1795 errichteten sie eine Synagoge, ihr Auskommen fanden sie in Gewerbe und Handel, später auch in einer jüdischen Zigarrenfabrik.
Das zentrale Kapitel über die »Blütezeit« zeigt, wie vielfältig sich jüdisches Leben mit Riten und Bräuchen im Jahreslauf und Religionskalender gestaltete. Zentrale Bezugspunkte bildeten Synagoge, Mikwe und Friedhof, und mit dem Schulwesen, anfangs mit einer Volksschule für Christen und Juden getrennt, aber unter einem Dach, später mit der gemischt-konfessionellen Bernheimer’schen Realschule schien die Integration der Bevölkerungsgruppen zu gelingen. 1805, mit dem Übergang Buttenhausens an Württemberg, lag der jüdische Bevölkerungsanteil bei 40 Prozent, 1870, vor Beginn der Abwanderung in die Städte, machte er mit rund 440 Gemeindemitgliedern über die Hälfte aus. Bekannte Persönlichkeiten wie der Rabbiner Jakob Stern, der Lehrer Naphtali Berlinger, der Kunsthändler Lehmann Bernheimer, der Reformpädagoge Theodor Rothschild oder der Musikprofessor Karl Adler zeugen von einem regen Geistesleben.
Aber der Firnis der Zivilisation war dünn. 1933 lebten noch 89 Juden im Ort, beim Novemberpogrom 1938 brannten die Nazis, gegen den Widerstand des Bürgermeisters, die Synagoge nieder. Wer nicht auswandern konnte oder zuvor Suizid beging, wurde ins KZ verschleppt; davon berichten erschütternde Abschiedsbriefe. Von 1940 an fungierte Buttenhausen zudem als Zwangsaltersheim und Durchgangslager für rund 100 Juden aus Württemberg. Von den 36 deportierten Buttenhäusern überlebte allein Helene Rothschild. Wenige mutige Deutsche wie der Riedlinger Kaufmann Ludwig Peter Walz versuchten, den verfolgten Mitbürgern beizustehen.
Das Verdrängen und Verschweigen nach dem Krieg durchbrach Walter Ott, der sich gegen Widerstände für aktives Gedenken einsetzte und aufopfernd den Friedhof pflegte. Der 2014 verstorbene Ortsvorsteher brachte wahrhaft die Grabsteine zum Reden, ohne ihn gäbe es wesentliche Zeugnisse und damit das Museum nicht. Bei der Eröffnung der Ausstellung »Juden in Buttenhausen« 1994 wünschte sich Harry Lindauer, Sprecher der ehemaligen jüdischen Bewohner: »daß kommenden Generationen diese Ausstellung in Frieden besuchen, mit Verstand ansehen und vielleicht in Andacht an eine Zeit und eine Welt denken, da es ein Zusammenleben der Menschen gab, wie es heute nicht mehr besteht«. Dieser Satz ist wieder höchst aktuell, und das sehr ansprechend gestaltete Buch führt die vergangene Welt ebenso vor Augen wie die überdauernde Aufgabe. Und das nicht nur in Texten und Bildern, sondern auch in Animationsfilmen, die über QR-Codes zugänglich sind und das jüdische Leben hoffentlich auch für ein jüngeres Publikum erlebbar machen.
Wolfgang Alber
Views: 81
Das Engagement der Buttenhauser Bürger für eine offene Erinnerungskultur an die jüdische Geschichte ist bemerkenswert. Zuviel ist verschüttet, zerstört und dem Vergessen anheim gefallen. Kompliment!
Ich bin Autorin dieses 2023 veröffentlichten Buches: Alltag im Elztal 1884-1893. Der Gärtner der Nähseidenfabrik Gütermann und seine “Kronik der Zeit”. Verlag Regionalkultur. Die Fabrikantenfamilue Gütermanns war jüdisch und wurde in der NS-Zeit verfolgt.
Liebe Grüße von Eva-Maria Gawlik-Sutter. evaland@web.de
Sehr geehrte Frau Gawlik-Sutter,
herzlichen Dank für Ihre Anmerkungen und die Anerkennung an die Bürgerinnen und Bürger von Buttenhausen.
Ihr SHB-Team