Titelbild eines Buches

Jan Philipp Reemtsma: Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur.

Verlag C.H. Beck München 2023. 704 Seiten mit 34 Abbildungen. Fester Einband 38 €. ISBN 978-3-406-80070-2

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Christoph Martin Wieland, der mit Goethe, Schiller und Herder zu den Großen der sogenannten Weimarer Klassik zählt, ist heute nahezu unbekannt. »Wieland wird nicht mehr gelesen«, schrieb Walter Benjamin schon 1933, zum 200. Geburtstag des Dichters. Daran hat sich nichts geändert. Wer mit Mythologie und Geschichte des antiken Griechenlands, mit Historie und Literatur des Römischen Reichs oder mit der Bibel nur wenig vertraut ist, hätte auch nicht allzu viel von einer Wieland-Lektüre. Dennoch bleibt der 1733 in Oberholzheim bei Biberach geborene und 1813 in Weimar gestorbene Literat ein Großer, und sein jüngster Biograf Jan Philipp Reemtsma behauptet sogar, Lessing und Wieland hätten die moderne deutsche Literatur erfunden – sie hätten der deutschen Sprache eine zuvor nicht sichtbare Feinheit und Gelenkigkeit verliehen, die dieses schöne Idiom erst zum variantenreichen Vehikel für dichtende Sprachvirtuosen gemacht hätte. Trotzdem ist der »in die Reihe Montaigne, Hume, Diderot« gehörende Romanschreiber, Verskünstler und politische Schriftsteller, der unter anderem Shakespeare, Horaz und Cicero ins Deutsche übersetzt hat, die seinerzeit enorm einflussreiche politisch-literarische Zeitschrift Der Teutsche Merkur herausgab und mit seinen Werken zu Lebzeiten höchste Anerkennung erfuhr, nur noch wenigen Germanisten ein Begriff. Auch die neue Biografie ist im Grunde ein Buch für Germanisten, was unter anderem daran liegt, dass ihr Verfasser nicht unbedingt zu den ganz großen Stilisten gerechnet werden kann und sich zu oft bei akribischen philologischen Detailanalysen aufhält. In erster Linie aber liegt es am Gegenstand.

Selbstverständlich entfaltet Jan Philipp Reemtsma ein angemessen umfängliches Panorama der deutschen und europäischen Geistes- und Kulturgeschichte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in dessen Kontext nicht nur Wielands umfangreiches Gesamtwerk beleuchtet wird, sondern auch Künstlerinnen und Künstler porträtiert werden, die für seinen Lebensweg wichtig waren. Die Jugendfreundin Sophie von La Roche zum Beispiel, die mit dem Roman Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) berühmt wurde, und bei Reemtsma, vor allem was ihre späteren Jahre betrifft, ungewöhnlich schlecht wegkommt. Oder der Zürcher Gelehrte Johann Jakob Bodmer, die Berner Schriftstellerin Julie Bondeli, die berühmten Weimarer Kollegen, dazu Jean Paul, Heinrich von Kleist, Johann Gottfried Seume, Friedrich Schlegel – und viele andere mehr. Über die Herzogin Anna Amalia, die Wieland 1772 als Erzieher ihres Sohnes Carl August nach Weimar holte, erfährt man Interessantes, ebenso über Wielands Jahre im nahe gelegenen Landgut Oßmannstedt, für dessen Erhalt und Ausbau zur Gedenkstätte sich Jan Philipp Reemtsma mit Nachdruck eingesetzt hat und das auf jeden Fall einen Besuch lohnt. Auch die historisch unerhebliche, zu Wielands kurzem Nachruhm aber erheblich beitragende Begegnung mit Napoleon wird nicht übersehen. Wie der Biograf überhaupt nichts Wichtiges übersieht, das zu diesem reichen und langen Dichterleben dazugehört hat.

Aber ihn deshalb gleich lesen? Und wenn ja, was? Eine Versnovelle? Musarion und Oberon sind vor allem dadurch bekannt, dass sie in Dichtung und Wahrheit erwähnt werden, wo Goethe berichtet, was sie ihm als junger Mann bedeutet haben – wer aber mag das noch lesen? Die großen Romane? Die Geschichte des Agathon, Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva, Der goldene Spiegel, Geschichte der Abderiten, gar die Spätwerke Agathodämon oder Aristipp und einige seiner Zeitgenossen? Alles recht mühsam und weit weg von heute – auch wenn Arno Schmidt das Werk des verehrten Vorgängers als einen der »ganz raren Fälle« bezeichnet hat, »wo intellektuelle Poesie verwirklicht wurde«. Der Biograf versucht erst gar nicht, so etwas wie einen »Wieland für’s 21. Jahrhundert« zu konstruieren – den gibt es nämlich nicht. Auch wenn Jan Philipp Reemtsma sich mehr als einmal als Bewunderer und Verehrer des Dichters outet, bewahrt er sich eine realistische Einschätzung der Lektürevorlieben seiner Zeitgenossen. Dennoch, wie sollte es anders sein, wird man auch bei Christoph Martin Wieland manches finden, was bedenkenswert bleibt: »Der Himmel verhüte, daß ich von irgendeinem denkenden Wesen verlange, mit mir überein zu stimmen, wenn er von der Richtigkeit meiner Behauptungen oder Meynungen nicht überzeugt ist; oder daß ich jemahls fähig werde, jemandem meinen Beyfall deßwegen zu versagen, weil er nicht immer meiner Meinung ist.« Aktuell, nicht wahr? Und auch zahlreiche weitere Anregungen, die sich aus Jan Philipp Reemtsmas monumentalem Werk gewinnen lassen, sind nicht zu verachten. Man darf sich also auf diese anspruchsvolle Biografie getrost einlassen, ist sie doch, um mit Wieland zu sprechen, allemal dazu geeignet, manchem »abnehmenden Lebens-Lämpchen Oel zuzugießen«.

Klaus Hübner

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Ein Kommentar

  1. Der ReemtsmaText ist Fundgrube für unaltmodisches Schreiben zum Aerger der Stilisten als Hasser lebendiger
    Vereinfachung. Auch wenn das Alte seine unvergängliche aber eigene Schönheit hat , was Wieland der Zukunft
    beweisen wird.

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