Hrsg. von Norbert Sievers, Ulrike Blumenreich, Sabine Dengel und Christine Wingert. (Jahrbuch für Kulturpolitik 2019/20 des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft, Band 17). Transcript Verlag Bielefeld 2020. 512 Seiten. Hardcover € 30,–. ISBN 978-3-8376-4491-3
Es wird gern gekalauert, dass die Heimatdebatte allmählich matt mache. Aber Heimat hat kein Ende, und der anhaltende oder immer wieder aufflammende Diskurs zeigt die Aktualität und die Brisanz des Begriffs. Gerade in Krisenzeiten mit zu beheimatenden Flüchtlingen oder in der Corona-Verunsicherung nach Halt suchenden Einheimischen.
Das gewichtige Jahrbuch für Kulturpolitik 2019/20 behandelt das Thema ziemlich erschöpfend: Über 50 Autor*innen aus dem In- und Ausland, aus Politik und Wissenschaft, aus Heimatvereinen, Kultureinrichtungen und Kulturprojekten diskutieren vielerlei Aspekte von Heimat, zeigen Chancen und Probleme auf, die mit dem Terminus in Theorie und Praxis einhergehen. Insoweit bekommen Leser*innen in den meist kurz gefassten Beiträgen einen breiten, durchaus anregenden Überblick.
Wie schillernd und fließend Vorstellungen von Heimat sind, das macht schon der Buchtitel mit dem inzwischen gängigen Plural Heimaten deutlich. Und Kulturstaatssekretärin Monika Grütters postuliert einleitend, dass Selbstvergewisserung und Heimatverbundenheit für eine Gesellschaft so notwendig sind wie Offenheit und Toleranz gegenüber dem Fremden. Der Mangel an Identität ebenso wie der Mangel an Toleranz »befördert Radikalismus und Fundamentalismus«. Die Herausgeber*innen weisen zurecht darauf hin, dass Heimat, gerade weil sie in der Postmoderne zwischen »kultureller Ressource« und »Kampfbegriff« oszilliere, eine (demokratie-) politische Aufgabe sei. Schade, dass dann solche Themen kaum vorkommen: Die Beheimatung von Migrant*innen, die rechtsnationalistisch-identitäre Aneignung des Heimatbegriffs oder die Aktivitäten des »Heimatministeriums« über die bloße Begriffsbesetzung hinaus.
Es ist unmöglich, hier auf alle Beiträge einzugehen, deshalb sollen eher kulturpolitische und praxisnahe Texte beleuchtet werden. Wolfgang Thierse, der in der SPD mit kritischen Anmerkungen zur sogenannten Identitätspolitik aneckte, definiert in der globalen Dialektik zwischen »Somewheres« und »Anywheres« einen kulturpolitisch »linken« Heimatbegriff: »Heimat als Prozess von Beheimatung(en) ist dann weder sozial, noch ethnisch noch religiös exklusiv«.
Der Blick geht angesichts globaler Verflechtungen mit Beiträgen über internationale (Michelle Müntefering) und postnationalstaatliche Kulturpolitik (Jens Adam) durchaus über den heimischen Tellerrand hinaus. Und bietet durch den Vergleich der Erfahrungen mit freiem Eintritt in Museen in Europa und den USA (Tibor Kliment) eine interessante Erkenntnis: Freier Eintritt steigert zwar anfangs die Besucherzahlen durch Mitnahmeeffekte des »Alt-Publikums«, fördert aber kaum die soziale Öffnung der Einrichtungen und die Diversifizierung der Besucher*innen.
Im Kapitel über Potenziale »kultureller Heimatpolitik« zeigt Claudia Neu anhand von Fallbeispielen in Hessen und Thüringen, wie das Schaffen »sozialer Orte« Kirchturmdenken überwinden kann. Kerstin Faber geht, das Postulat »gleichwertiger Lebensverhältnisse« als Richtschnur nehmend, auf Kulturkooperationen zwischen Stadt und Land ein. Umgekehrt kann die Stadt eine »kulturelle Heimat für alle« sein, den Gegensatz zwischen Weltoffenheit und Provinzialität aufheben und kulturellen Transfer ermöglichen. Etwa durch das Stadtmuseum, das zugleich »Heimat Museum« (Susanne Gesser) ist. »Andere Heimaten« wie das partizipative Modell der Soziokultur und das Zukunftsmodell Cultural Governance erörtert Wibke Behrens. Und das widerständige Potential von Heimat im Kampf gegen den Braunkohleabbau bei Hambach oder das Atommülllager Gorleben thematisieren Antje Grothus und Birgit Huneke.
Ein weiteres wichtiges Kapitel ist Heimatvereinen und Heimatmuseen und ihrem Beitrag zur Heimatgestaltung gewidmet; so bekommt der antiquiert erscheinende Begriff »Heimatpflege« neue Bedeutung. Eine Form der »Bewahrung« verlorener Heimaten sind zudem virtuelle Museen, wie Bernd Finken zeigt. Und reale Heimatmuseen wären so gesehen wiederum sich weiterentwickelnde »Orte neuer Heimat«, schreibt Hans Lochmann.
Schließlich geht es, Ernst Blochs Diktum vom »Umbau der Welt zur Heimat« folgend, um »Heimat als Utopie« (Klaus Kufeld) und um »die Gestaltung der Nähe« als Resonanzraum (Alexander Koch). Dazu gehört auch das »Zuhause am ›Dritten Ort‹« (Katja Drews). Das Konzept stammt vom US-Stadtsoziologen Ray Oldenburg, für den neben ersten (Zuhause) und zweiten (Arbeit) Orten dritte Orte wie Cafés, Friseursalons, Buchläden, Kneipen zur Lebensweise mobiler Gesellschaften gehören. Drews nennt sie »Beheimatungsproduzenten«, die Knotenpunkte im öffentlichen Raum bilden, soziale Teilhabe ermöglichen, »Community« erzeugen.
Der Band lädt mit seiner Fülle zum Blättern und Schmökern ein. Ein Kapitel über Kulturstatistik und Kulturforschung sowie eine umfangreiche Bibliografie kulturpolitischer Neuerscheinungen runden das Jahrbuch ab.
Wolfgang Alber
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