Eine Studie zur Geschichte und Theologie des Kirchenraums und zur Entstehung zweier Kirchenbautypen. J. S. Klotz Verlag Neulingen 2023. 360 Seiten mit zahlr. Abbildungen, Hardcover 39,90 €. ISBN 978-3-949763-29-8
Von einer Entdeckung zur nächsten kann man Ulrich Zimmermann in seinem Werk zum Kirchenbau folgen. Er war Pfarrer an der Göppinger Stadtkirche, machte dort und an anderen Stellen interessante Kirchenbau-Entdeckungen und stellte dies alles im Ruhestand zu einem beachtlichen Werk über protestantischen Kirchenbau in Württemberg zusammen. Offenbar hat man aus der Reformation vielerorts unmittelbar Schlüsse gezogen für die Gestaltung der Räume für den Gottesdienst im neuen Glauben. Insbesondere im Südwesten mit seinen zahlreichen Reichsstädten wurde der reine Predigtgottesdienst gepflegt und die Ausrichtung auf die Kanzel entscheidend. Es entstanden Typen, die Zimmermann unter den Begriffen »Predigtkirche« und »Querkirche« systematisiert. Später, vor allem im 20. Jahrhundert, hat man viele protestantische Querkirchenräume wieder in Längsrichtung gedreht – der protestantische Gehalt fiel dabei einem ästhetischen Bild von typischer Kirche zum Opfer. Durch Veränderungen ist aus dem Blick geraten, welche protestantischen Kirchenräume der ersten Zeit insbesondere in Württemberg epochemachend waren. Indem Zimmermann die protestantische Gestaltung der ersten Zeit wieder ans Licht holt, sorgt er dafür, dass die Geschichtsschreibung zum Kirchenbau in Teilen verändert wird. Drei Kirchenräume werden von Zimmermann in ihrer Bedeutung für die Baugeschichte neu untersucht: Die Göppinger Stadtkirche, die Wittenberger Schlosskirche und die Tübinger Schlosskirche.
Für die Wittenberger Schlosskirche, bei Zimmermann die »Geburtskirche der Reformation«, beschreibt er, wie sie durch den Gebrauch im Anfang des 16. Jahrhunderts verändert wurde: Die Kanzel hatte ihren Platz im Raumzentrum, die auf sie ausgerichtete feste Bestuhlung zeigt, wie die Ausrichtung auf den Altar abgelöst wird. Die vormals für die Heiligenverehrung genutzten Emporen wurden von der Gemeinde eingenommen, eine Orgel zur Begleitung des Gemeindegesangs kommt in Gebrauch. Die Kanzel in der Mitte der Längsseite bewirkt, dass der Längsraum quer ausgerichtet genutzt wird. Viele Kirchenbauten schließen sich dem an, unter anderem die Torgauer Schlosskirche, die bisher als Urbau für diese Anordnung galt.
Auch die Stuttgarter Schlosskirche von 1562 und dann die Göppinger Stadtkirche, ein Neubau des protestantischen Württemberg durch Heinrich Schickardt, wurde 1618 mit der Kanzel in der Mitte der Längswand entworfen. Im Neubau fehlt der Chor und die ganze Gemeinde ist – besonders erkennbar an der dreiseitigen Gemeindeempore – auf die Kanzel aufgerichtet. Seit 1772 bis heute ist die Göppinger Stadtkirche jedoch in Längsrichtung gedreht und die Empore verändert.
Als Urbau für den von Zimmermann »Predigtkirche« genannten Typ entdeckt er die Tübinger Schlosskirche. Dieser Kirchenraum ist bisher von der Forschung unerkannt geblieben und auch in der Praxis kaum öffentlich zugänglich gewesen. Hier baute der württembergische Herzog Ulrich eine Kapelle mit der Kanzel zentral an der Stirnwand. Der Altar wird darunter angeordnet. »Predigtkirchen« sind in der Folge viele Kirchen, in denen – wie bei den sogenannten Kameralamtskirchen des 19. Jahrhunderts – die Kanzel an der schmalen Stirnseite mittig oder leicht seitlich über dem Altar angeordnet ist. Mit einer Bauzeit »um 1535« identifiziert Zimmermann auf Hohentübingen den ersten protestantischen Kirchenneubau überhaupt.
Zimmermann ordnet diese Beispiele in die Gesamtentwicklung des evangelischen Kirchenbaus anschaulich ein und versammelt dazu viel Material, vor allem eine Fülle von 370 württembergischen Kirchen, die als »Predigtkirchen« oder »Querkirchen« gestaltet waren oder weiterhin sind. Das gut gearbeitete Buch im Bildband-Format ist so eine Fundgrube für die württembergische Kirchenbaulandschaft und ihre Erforschung. Der Rezensent, selbst Theologe mit Architekturdiplom, hat schon lange kein Kirchenbaubuch mehr so spannend gefunden. Es lädt unmittelbar dazu ein, der Spurensuche in württembergischen Kirchen weiter zu folgen.
Gunther Seibold
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