Kohlhammer-Verlag Stuttgart 2024. 336 Seiten mit 25 Abb. Paperback 25 €. ISBN 978-3-17-044031-9
Als Friedrich List Ende November 1846 im winterlichen Wald über Kufstein in Tirol seinem Leben durch einen Pistolenschuss ein Ende setzte, verlor Deutschland einen bemerkenswerten, im positiven Sinne schillernden, durch die Spannbreite seiner Tätigkeit und Interessen hervorstechenden politischen und sozioökonomischen Visionär. Roland Brecht, von Haus aus mit Fragen der Wirtschaftspolitik beschäftigter Ministerialbeamter in Baden-Württemberg, bezeichnet ihn in der jüngst vorgelegten Biografie als einen der brillantesten Köpfe Deutschlands im 19. Jahrhundert.
List entstammte der Oberschicht der Freien Reichsstadt Reutlingen, wo sein Vater, ein Weißgerber, mehrfach in hohe städtische Ämter gewählt wurde, absolvierte eine an sich wenig reputierliche »Schreiberlehre«, machte aber Karriere und wurde in der Umbruchsphase des jungen Königreichs von Napoleons Gnaden aufgrund höchster Protektion gerade 28-jährig als Professor an die eben gegründete Staatswirtschaftliche Fakultät der Universität Tübingen berufen. Seine Blicke gehen aber weit über Württemberg hinaus; er propagiert ein einheitliches deutsches Zollgebiet, wie es später im Deutschen Zollverein realisiert werden wird. Es folgte seine Wahl zum Landtagsabgeordneten – und kurz darauf der tiefe Fall: Nach seinen als aufrührerisch und majestätsbeleidigend interpretierten Denkschriften 1822 wurde er zur Festungshaft auf dem Hohenasperg verurteilt und nach einigen Monaten begnadigt. 1825 wanderte er nach Amerika aus, ab 1832 – angelockt durch die zunächst erfolgreiche Pariser Juli-Revolution von 1830, ging er für zwei Jahre ins Exil nach Paris. In den USA wird er zu einer prägenden Kraft des noch jungen Eisenbahnwesens; ein Thema, das ihn bis zu seinem Tod nicht mehr ruhen lassen wird.
Im Sommer 1833 kann List mit seiner Familie zwar nicht in seine Heimat Württemberg, aber doch nach Deutschland zurückkehren: nach Leipzig, von wo aus er einige Jahre rastlos nicht nur praktisch für eine von ihm projektierte, privat und nicht staatlich finanzierte sächsische Eisenbahnlinie Leipzig-Dresden, sondern darüber hinaus publizistisch für ein von ihm entworfenes nationales deutsches Eisenbahnnetz wirkt. Lists Ideen werden verwirklicht, die eine früher, die andere später. Doch seine Hoffnungen auf eine angemessene Bezahlung oder wenigstens gesicherte Stelle in einem Eisenbahnunternehmen oder eine Beamtenkarriere zerschlagen sich mit zermürbender Regelmäßigkeit. 1840 zieht er für kurze Zeit wieder nach Paris, 1841 nach Augsburg. 1843 erfolgt die lang angestrebte »Wiederherstellung seiner bürgerlichen Ehre« durch königlichen Erlass in Württemberg. Sein grundlegendstes Werk Das nationale System der politischen Ökonomie erscheint bei Cotta. 1846 begeht er Selbstmord.
Soweit die bekannten biografischen Stationen des Ruhelosen. Hauptanliegen Roland Brechts ist freilich ein anderes: Er will dem Leser Friedrich List als weit über den Horizont seiner Zeit hinausdenkendes – und damit zu früh gekommenes – politisches und ökonomisches Genie näherbringen, als genialen Visionär, dessen Ideen sich heute, oder sagen wir besser: in den Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs, konkrete Wirklichkeit wurden, samt Globalisierung und sozialer Marktwirtschaft. Dies geschieht in der Regel durch die Suche, wo im fast unüberschaubaren publizistischen und praktischen Werk Lists Ideen, Gegebenheiten und Entwicklungen der jüngeren Weltgeschichte (vielleicht?) präfiguriert sind. Der Autor wird dabei erstaunlich oft fündig. Ob dieses Vorgehen, den Wert von Lists Gedanken von einst aus dem »Heute« als gleichsam Beste aller möglichen Welten zu erklären, wissenschaftlich haltbar ist und ob man Brechts unverhohlener Begeisterung folgen möchte, muss dem Leser überlassen bleiben.
Roland Brecht weiß Friedrich Lists Tätigkeit und Lebensumstände in breit angelegte, durchaus kenntnisreiche Schilderungen der nationalen wie internationalen (v.a. europäischen) historischen Bedingungen und Entwicklungen seiner Zeit einzubetten. Wie sich List, und vor allem sein Scheitern, aus seiner Zeit heraus erklärten könnte, bleibt eher im Dunkeln. Des Öfteren holt der Autor thematisch weit aus – teils in etwas sperrigem wirtschaftswissenschaftlichen Duktus oder an anderer Stelle an eine politische Grundsatzrede erinnernd. Lists Wirken steht im Vordergrund des Buches, der Mensch aber bleibt sehr im Hintergrund. Besonders deutlich wird dies, wenn Brecht kaum auf die Gründe des offenbar keineswegs spontanen, im Buch auf knappen drei Seiten abgehandelten Suizids zu sprechen kommt.
Im letzten Kapitel des Buches »Fragile Welt« widmet sich Roland Brecht dann schließlich völlig der Gegenwart – in Form einer grundsätzlichen Erläuterung der Weltökonomie des 21. Jahrhunderts und Zustandsschilderung Deutschlands und der deutschen Politik. In diesem Kapitel spielt Friedrich List dann freilich keine große Rolle mehr; aus dem Text spricht nun eher der hohe politische Beamte.
Raimund Waibel
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