Band 3: In den Strudeln der großen Politik (1918–1952)
Thorbecke-Verlag, Ostfildern 2022. 536 Seiten mit 240 Abb., Hardcover 34 €. ISBN 978-3-7995-1586-3

Es ist ja mehr als nur ein »ondit«, dass Oberschwaben ein gerüttelt Maß an speziellem und auch gern zur Schau gestelltem Regionalbewusstsein besitzen. Nicht zuletzt Traditions- und Geschichtspflege tragen dazu maßgeblich bei. Daher verwundert, dass zur Geschichte der Region zwischen Donau, Iller, Bodensee und Schweiz bis jetzt keine nennenswerte epochen-übergreifende Geschichte existiert, bis vor kurzem nicht einmal für die Zeit seit der Säkularisation und Mediatisierung 1806, als die vielen kleinen geistlichen und fürstlichen Territorien samt den Reichsstädten politisch geeint, Teil des Königreichs Württemberg und später des Deutschen Reichs geworden waren.
Rund zwei Jahrzehnte arbeitete der ehemalige Ravensburger Stadtarchivar Peter Eitel an seiner voluminösen Geschichte Oberschwabens im 19. und 20. Jahrhundert, die mit dem Erscheinen des dritten und letzten, die Zeit vom Ende des Ersten Weltkriegs 1918 bis zum Jahr 1952 umfassenden Teil nun abgeschlossen ist. Eitel unterteilt diesen letzten Band in vier große Abschnitte: Den Jahren der Weimarer Republik (1918–1933) folgten sechs Jahre Herrschaft des Unrechts (1933–1939), die in den Zweiten Weltkrieg mündeten; in denen freilich, dies sei angemerkt, Unrecht, Terror und Verfolgung von Andersdenkenden und Minderheiten durch die Nazis nicht weniger gnadenlos praktiziert wurden als in den ersten Jahren nach der »Machtübernahme«, nun aber über die Grenzen Deutschlands hinaus auch noch in weiten Teilen Europas. Nach dem Krieg fand sich Oberschwaben schließlich »unter französischer Besatzung« wieder (1945– 1952). Die Gründung des Bundeslandes Baden-Württemberg 1952 markiert im Buch den Schlusspunkt.
Peter Eitels Geschichte Oberschwabens hat die Menschen in Oberschwaben stets fest im Blick: als Untersuchungsgegenstand wie als Adressaten. Das Ziel ist, klar und verständlich eine möglichst faktenreiche Vorstellung davon zu vermitteln, was geschah, zu fragen, was die Menschen bewegte und wie sie ihre Zeit erlebten – und oft erlitten. Die Antworten erfolgen dabei auffällig nah am Menschen; und dies, ohne dass die institutionellen Rahmenbedingungen und Hintergründe samt den »großen« Entwicklungen hinter dem Alltag vergessen würden.
Die untersuchten Themenbereiche in den vier Hauptabschnitten ähneln sich, erfahren aber natürlich je nach Zeitabschnitt unterschiedliche Gewichtung. Es würde zu weit führen, wollte man die Themen einzeln anführen, doch sei am Beispiel der fünfzehn Seiten »Organisation und politische Gefolgschaft der NSDAP« verdeutlicht, wie weit gespannt die Schilderung Peter Eitels gerät: Sie reicht von eben der Organisation und der Gliederung der NSDAP in Oberschwaben und einer Charakterisierung der Parteimitgliedschaft samt Kreisleiter bis zu SA, SS, Gestapo und nicht zu vergessen die Hitlerjugend – verdeutlicht an konkreten Beispielen und Vorgängen in und aus Oberschwaben.
Der Autor konnte für sein Werk auf eine offenbar über einen langen Zeitraum systematisch aufgebaute Quellen- und Faktensammlung zurückgreifen. Das Resultat ist ein ungemein buntes und vielschichtiges Bild. Als Quellen dienen nicht nur offizielle Statistiken, etwa Bevölkerungsdaten, Wirtschaftsstatistiken und Wahlergebnisse, sondern insbesondere auch Zeitungen – ein Ergebnis oft mühseliger Kleinarbeit, wie Peter Eitel schildert –, ganz zu schweigen von umfangreichen Beständen in staatlichen, kommunalen, kirchlichen Archiven und sogar private Überlieferungen. Der daraus resultierende Faktenreichtum ist schlicht überwältigend. Fast jede Frage, jeden speziellen Umstand illustriert der Autor mit Fallbeispielen, Quellen oft im Wortlaut zitierend. Geschichtsschreibung nicht aus der Sicht des großen Überfliegers, sondern des aus dem tatsächlichen Leben schöpfenden Chronisten. Dies trägt ungemein zum Reiz der Darstellung und zur Lesbarkeit des Textes bei. Peter Eitel nennt dabei Ross und Reiter, gerade bei der 235 Seiten, also etwa die Hälfte des gewichtigen Bandes, umfassenden Schilderung der Jahre 1933 bis 1945, die ausführlich die an den jüdischen Bürgern und den Sinti verübten Verbrechen, ebenso Euthanasiemorde und Zwangssterilisationen behandelt.
Peter Eitels Stil kommt der Leserschaft – und der intendierten Informationsvermittlung – entgegen, weil er flüssig und oft ganz locker schreibt und schwer verständliche Fachterminologie möglichst vermeidet. Eine klare Gliederung des Textes und geschätzt 250 Abbildungen – meist Fotomaterial aus der behandelten Zeit – tragen dazu bei. Mehrere hundert Endnoten unterstreichen die Wissenschaftlichkeit des Werks, das Namens- und Ortsregister ist umfangreich und vorbildlich. Diese Geschichte Oberschwabens eignet sich übrigens auch ganz vorzüglich zur geistigen Feierabendbeschäftigung: zur Konsumierung mit Genuss und Gewinn in kleineren Happen. Dies gilt nicht nur für in der Heimat verwurzelte Oberschwaben, sondern auch für »Reingeschmeckte« – und viele historisch interessiert Leser außerhalb der Region. Aber lesen Sie doch selbst!
Raimund Waibel
Views: 21