S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2024. 364 Seiten mit zahlr. Abb. Hardcover 26 €. ISBN 978-3-10-397542-0
Auschwitz ist zum Synonym für die von den Nazis als »Endlösung der Judenfrage« ausgegebene systematische Ermordung von sechs Millionen europäischer Juden geworden. Doch verdeckt diese Fokussierung auf das Lager im besetzen Polen, das nicht nur das größte Lager war, sondern in seiner Verbindung von Konzentrations- und Vernichtungslager eine besondere Stellung im Terrorsystem der SS einnahm, dass die meisten der ermordeten sechs Millionen jüdischen Männer, Frauen und Kinder nicht in Auschwitz ums Leben kamen, sondern durch Einsatzgruppen erschossen wurden oder in Ghettos elend zugrunde gingen. Zudem gab es weit mehr Deportationsziele als Auschwitz, das erst im Frühsommer 1940 eingerichtet wurde, also zu einem Zeitpunkt, als mit den ersten, noch unsystematischen Deportationen bereits 1600 Wiener Juden sowie pommersche Jüdinnen und Juden aus Stettin »in den Osten« verschleppt worden waren.
Am Anfang standen die Ghettos. Die erste Deportation der württembergischen Juden ging im Dezember 1941 nach Riga, im sogenannten »Reichskommissariat Ostland«. Das war bald so überfüllt, dass der Deportationszug mit schwäbischen Juden aus Augsburg nach Kaunas/ Kowno umgeleitet werden musste. Eine spätere Deportation württembergischer Juden ging 1942 nach Izbica in der Nähe von Lublin, das die SS 1942 zu einer Durchgangsstation in die Vernichtungslager der »Aktion Reinhardt«, Belzec und Sobibor gemacht hatten.
Immer begann der Weg in die Vernichtung mit der Deportation. Viele Lokalstudien und von Stolperstein-Initiativen recherchierte Biografien haben nachgezeichnet, was dies im Einzelfall bedeutete. Andrea Löw, die stellvertretende Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München, hat es nun unternommen, ein Gesamtbild der mit der Deportation verbundenen Erfahrungen zu zeichnen, vom Erhalt des Deportationsbefehls »in den Osten« bis zur Auflösung der Ghettos und die anschließende Verschleppung nach Auschwitz oder in ein anderes Vernichtungslager. Nicht aus der Sicht der verfolgenden Behörden, sondern anhand zahlreicher Aufzeichnungen von Überlebenden oder letzter Lebenszeichen von Ermordeten, die sie in zahlreichen Archiven sowie in der Literatur fand, zeichnet die Autorin ein nuanciertes, vielschichtiges Bild unterschiedlichster Erfahrungen, für die alle dennoch die Aussage eines Überlebenden zutrifft, die Andrea Löw als Untertitel gewählt hat, »immer mit einem Fuß im Grab«. Empathisch beschreibt sie Situationen, die allesamt nur schwer vorstellbar sind, von der Reaktion auf den Befehl zur Deportation, der den Empfänger aus seiner vertrauten, wenn auch schon längst nicht mehr sicheren Umgebung riss, über die tagelangen Transporte ohne Versorgung in überfüllten Zügen bis zur Ankunft an den Zielorten, wo die Ankömmlinge nicht selten mit den Leichen der kurz zuvor ermordeten Anwohner konfrontiert waren. Unfassbar die Fähigkeit, das Leben unter den schwierigsten Bedingungen neu zu organisieren, weiterzuleben und trotz permanenten Morden, Verlusten von Familienangehörigen und eigenen Gewalterfahrung, trotz Not und Hunger, Kälte und Krankheit sowie entwürdigender hygienischer Zustände dem Leben mit Sport und Kulturveranstaltungen, vor allem aber mit Bildung für die Kinder noch etwas Freude und Würde abzugewinnen. Hin und wieder ist auch von religiösen Feiern die Rede.
Neben vielen kurzen Texten standen der Autorin auch lange Berichte zur Verfügung, die die ganze furchtbare Zeit bis zur Befreiung abdeckten. Sie erlaubten, auch die individuelle Entwicklung einer Person nachzuverfolgen. Einer davon stammt von der Stuttgarterin Hannelore Marx, geb. Kahn. Als sie im November 1941 den Deportationsbefehl nach Riga erhielt, glaubte sie noch, sie würde dort in einer Fabrik arbeiten. Die Realität im Lager Jungfernhof, einem behelfsmäßigen Ausweichquartier bei Riga (Rumbula), sah völlig anders aus. Flucht war nahezu unmöglich, so stellte sie fest: »Wohin konnten wir gehen ohne Geld oder […] und ohne die Landesprache zu sprechen?« Und doch gelang einzelnen die Flucht. Hannelore Marx kam vom Jungfernhof nach Riga und von dort, bei der Schließung, 1944 nach Stutthof. Dort waren die Bedingungen so katastrophal, dass die SS Sterbezonen einrichtete, in denen sie die Häftlinge sich selbst überließen. Hannelore Marx gelang der Weg aus dieser »Hölle«, indem sie sich für ein Arbeitskommando meldete. Als endlich die ersehnte Befreiung kam, ging es ihr wie den meisten der Überlebenden: Sie fühlte sich vollkommen verloren, der Boden war ihr unter den Füßen weggezogen.
Die übergroße Anzahl der Deportierten hat die Befreiung nicht erlebt, sie wurden erschossen, vergast oder fielen den furchtbaren Umständen zum Opfer.
Obwohl einfühlsam geschrieben und geschickt kontextualisiert, ist das Buch keine einfache Lektüre – wie sollte es auch. Aber es ist eine notwendige, weil es den Verfolgten eine Stimme gibt, sie in den Mittelpunkt stellt. Bedauerlich ist nur, dass ein Ortsregister fehlt, das ermöglichen würde, gezielt nach einzelnen Deportationsorten zu suchen.
Benigna Schönhagen
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