Beiträge zu Machtverhältnissen und Verwaltungskultur in den badischen und württembergischen Landesministerien in der Zeit des Nationalsozialismus. Christiane Kuller, Joachim Scholtyseck, Edgar Wolfrum (Hrsg).
(Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden- Württemberg. Reihe B, Forschungen Bd. 234). Thorbecke Verlag, Ostfildern 2024. 592 Seiten, 4 Abb. und Grafiken. Hardcover 48 €. ISBN 978-3-7995-9593-3

2014 regte die Baden-Württembergische Landesregierung eine breit angelegte Untersuchung zur regionalen Verwaltungsgeschichte des Nationalsozialismus an. Der erste Teil erschien im Jahr 2019, der abschließende zweite Teil im Jahr 2024 und versammelt 18 Aufsätze aus der Feder von 16 Autorinnen und Autoren.
Diese zweite Publikation enthält Fallstudien, »die die Handlungsspielräume und Funktionsweisen der beiden Länderverwaltungen systematisch und ressortübergreifend während der NS-Herrschaft beleuchten. Die Beiträge sind dabei um mehrere Problemfelder gruppiert: Konflikt und Kooperation mit der Reichsebene im Prozess der »Verreichlichung«; Personalstruktur und Karrierewege der Beamten in den Landesverwaltungen; Probleme ausgewählter Politikfelder wie der Hochschul- oder der Kulturpolitik; die Beteiligung der Landesministerien an den NS-Verbrechen, etwa an der Verfolgung politischer Gegner oder der Vernichtung der Juden sowie schließlich Aspekte, die über 1945 hinausragen und Fragen der Entnazifizierung, Wiedergutmachung oder der Nachkriegskarrieren der in der NS-Zeit tätigen Beamten betreffen.«
Ein Schlüsselbegriff des Forschungsprojekts ist der im Titel des Buches auftauchende Begriff der »Verreichlichung«. Bei diesem Vorgang handelte es sich um einen Prozess, der u.a. auf die (formale) Beseitigung föderaler Strukturen zugunsten des reichsweiten Zentralismus zielte. Dieser Vorgang bedeutete allerdings nicht, dass sich die Machtverhältnisse vollständig und komplett einseitig veränderten; teilweise verschoben sie sich nur von der institutionellen auf die personelle Ebene, d.h. die Machtpraktiken einzelner Akteure gewannen an Bedeutung. Darüber hinaus stellt sich die interessante Frage, ob sich innerhalb der »verreichlichten« und personalisierten Landesverwaltung eine spezifisch nationalsozialistische Verwaltungskultur mit entsprechendem alltäglichen Verwaltungshandeln identifizieren lässt. Damit ist zugleich die Frage nach den Funktionsmechanismen nationalsozialistischer Herrschaft aufgeworfen.
Die Aufsätze sind in fünf Teile gruppiert, die den oben bereits erwähnten fünf Problemfeldern entsprechen. Im ersten, in dem es um Konflikte und Kooperationen zwischen den badischen und württembergischen Landesverwaltungen und den Instanzen auf Reichsebene geht, richtet sich der Blick zum einen auf die nationalsozialistische Machtübernahme der Regierungsgewalt, hier am Beispiel Badens (Frank Engehausen), zum anderen auf die administrative »Verreichlichung« der Landesministerien und damit auf die Frage, wie die formalen und persönlichen Machtbeziehungen neu strukturiert wurden (Christiane Kuller). Auch am Beispiel von zwei Ressorts wird der Prozess der »Verreichlichung« untersucht, nämlich dem der Finanzbeziehungen (Nina Schnutz) und dem der Justiz (Tobias Sowade), in beiden Fällen mit Fokus auf Württemberg. Neu auszutarieren war auch das Verhältnis zwischen der Ebene der Landesministerien und der kommunalen Ebene, was am Beispiel der Gauhauptstadt Stuttgart demonstriert wird (Roland Müller).
Der zweite Teil des Buches dreht sich um die Personalstruktur und die Karrierewege in der Verwaltungsbürokratie Badens und Württembergs. Ein zentraler Gesichtspunkt hierbei ist naturgemäß die Mitgliedschaft der Ministerialbeamten in der NSDAP (Frank Engehausen). Ein weiterer Beitrag ist der Frage nach der geschlechtergeschichtlichen Dimension der Personalentwicklung gewidmet, die den Blick über Baden und Württemberg hinaus auch auf die Zivilverwaltung im besetzten Elsass richtet (Christa Klein, Marie Muschalek). Dass einzelnen Karrierebeamten der Sprung von der Provinz ins Reichswirtschaftsministerium und anschließend in die tschechische Protektoratsverwaltung gelang, lässt sich anhand eines württembergischen Juristen belegen, der – wohl nicht ganz im Sinne des Regimes – eine tschechische Schuhfabrik vor der Liquidierung rettete (Joachim Scholtyseck).
Zu den im dritten Teil des Buches behandelten Politikfeldern gehören die Hochschulpolitik (Sylvia Paletschek) und die Kulturpolitik (Jutta Braun), die beide ebenfalls im Spannungsfeld von Landes-und Reichsebene zu operieren hatten. Besonders konfliktbeladen zwischen beiden Ebenen waren die Wege der Preisbildung und der Preisüberwachung, hier analysiert am Beispiel ausgewählter Agrarprodukte in Württemberg (Christoph Schmieder). Die Rolle der Preisbildungsstellen ist bislang von der Forschung vernachlässigt worden; der Ansatz sollte aus Sicht des Rezensenten künftig auch andere Wirtschaftssektoren wie etwa die Wohnungswirtschaft (mit der Frage nach den Mietpreisen) einbeziehen, was jedoch die Mitberücksichtigung der kommunalen Ebene erforderlich machen würde.
Die folgenden drei Aufsätze sind den verbrecherischen Aspekten des NS-Regimes gewidmet. Hier geht es um die Rolle der Innenministerien in Stuttgart und Karlsruhe hinsichtlich ihrer Mitwirkung an der Zwangssterilisation und der »Euthanasie« (Thomas Stöckle) sowie um den Anteil der südwestdeutschen Verwaltungselite an der Verfolgung und Vernichtung der Juden (Katrin Hammerstein). Gleich nach der Machtübernahme setzte die Verfolgung der politischen Parteien Zentrum, SPD und KPD ein (Nicola Wenge): Welche Rolle spielten die Akteure auf Landesebene, vom Minister bis zur Polizei?
Im letzten Teil richtet sich der Fokus auf die Nachkriegszeit. Wie es aussieht, ist die Entnazifizierung der badischen Landesminister gescheitert; diese zeigten sich unbelehrbar, auch hinsichtlich der eigenen Vergangenheit, und blieben dem Nationalsozialismus verbunden (Edgar Wolfrum). Wie erging es nach 1945 den in der NS-Zeit verfolgten Justizbediensteten, konnten sie mit einer Entschädigung rechnen? Hier geht es um die Frage, ob es zutrifft, dass die Wiedergutmachungspolitik in Baden-Württemberg besonders opferfreundlich gewesen ist (Jan Schleusener). Ein problematisches Kapitel bildeten nach 1945 die Versorgungsregelungen für die in der NS- Zeit aktiven Beamten; vier Fallbeispiele aus dem Bereich des badischen Ministeriums für Kultus und Unterricht deuten darauf hin, dass stark belastete Personen mit harten Einschnitten bei der Altersversorgung rechnen mussten (Frank Engehausen). Auf der anderen Seite lässt sich aber auch zeigen, hier am Beispiel von sechs höheren badischen Ministerialbeamten, dass die bruchlose Fortsetzung von Karrieren und sogar das Erreichen von Spitzenpositionen in der Verwaltung möglich waren (Katrin Hammerstein). Genannte Untersuchungen beruhen auf Stichproben, die generalisierende Aussagen nicht zulassen.
Allzu bescheiden formulieren die Herausgeber am Ende ihrer Einleitung, dass die Beiträge des vorliegenden Sammelbands zwar neue Einblicke in die Funktionsweisen und Praktiken der Verwaltungsinstitutionen in den Jahren 1933 bis 1945 geben würden, dass aber viele Fragen offengeblieben wären, die weitere Quellenanalysen und Studien erforderlich machen würden. Das mag aus Sicht der beteiligten Wissenschaftler zutreffen; aus Sicht der interessierten Öffentlichkeit muss man jedoch zu dem Forschungsprojekt und seinen umfassenden Ergebnissen gratulieren. In anderen Bundesländern wäre man vermutlich froh über eine solch fundierte Aufarbeitung.
Ludger Syré
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