[vollständiger Titel] David Friedrich Strauß, Friedrich Theodor Vischer, Wilhelm Zimmermann [u.a.]: Das Blaubeurer Lagerbuch. Zeugnisse der Geniepromotion.
Hrsg. von Helmuth Mojem. Wallstein Verlag, Göttingen 2025. 322 Seiten, 18 Abb. Hardcover 38 €. ISBN 978-3-8353-5893-5

Wenn sich ein intimer Kenner der schwäbischen Literatur des 19. Jahrhunderts, wie der Leiter des Cotta-Archivs im Marbacher Literatenpantheon, eines Desiderats der Kulturgeschichte im Königreich Württemberg annimmt, erwartet das Publikum neue interessante und hintergründige Erkenntnisse. Helmuth Mojem erfüllt diese Erwartungen mit der reichhaltig kommentierten und sachkundig eingeleiteten Ausgabe des Blaubeurer Lagerbuches zur Gänze.
Mit der Reformation in Württemberg wurden die ehemaligen Klöster zu Seminaren umgewandelt. In diesen strengen Internaten wurden die Landeskinder, meist aus der so genannten »Ehrbarkeit «, nach einem »Landexamen« auf das Studium der Theologie auf dem Tübinger Stift – aber auch Jura, Medizin oder anderer Fächer waren möglich – mit anschließender Verwendung im herzoglichen Kirchendienst oder sonstiger Dienste vorbereitet. Nach der Zäsur durch die Niederlage Napoleons und dem Wiener Kongress ordnete der württembergische König das Seminarwesen neu und das Blaubeurer wurde eines von vier niederen Seminaren, die reihum für vier Jahre einen Jahrgang – eine Promotion – unterrichteten, bis zum Übergang an die Landesuniversität nach Tübingen bei entsprechend bestandenem Examen. Doch zum Blaubeurer Lagerbuch. Ein Lagerbuch verzeichnet vor allem Güter, Liegenschaften, Untertanen, Bewohner, Steuereinnahmen etc. eines Klosters, einer Güterverwaltung oder einer Amtseinheit. Das gibt es auch für Blaubeuren schon aus der Zeit des Klosters und später mehrfach. In Lagerbüchern finden sich auch Flurbezeichnungen, Namensformen, historischen Finanztransaktionen etc. Unser Lagerbuch ist ein großer literarischer und kultureller Spaß der »Blaubeurer Geniepromotion« mit insgesamt 29 Texten über das Leben, Lernen, Lust und Leid im Seminar – Stanzen, Oden, elegische Hexameterdichtungen, volksliedhafte Strophengedichte, Dramolett (köstlich die »Romantische Nationaltragödie «, Zauberey und Spengler von Strauß), fingierte Briefe etc. –, überwiegend von 1823 bis zum Abschluss in Blaubeuren 1825, einigen Texten aus der dann folgenden Studienzeit im Tübinger Stift bis zum Examen 1830 und Nachgetragenem von Promotionstreffen späterer Jahre. Die Edition zeichnet sich durch eine profunde Einleitung, fokussiert auf die drei bekanntesten, für das Blaubeurer Lagerbuch wichtigsten und später berühmtesten Seminaristen Friedrich Theodor Vischer (elf Texte), David Friedrich Strauß (sieben Texte – »quantitativ wie wohl auch qualitativ ist er der Hauptbeiträger«) und Wilhelm Zimmermann (drei Texte – der Primus inter pares der Promotion) und die opulenten und detailreichen Anmerkungsapparate zu Vorwort und Edition aus. Das macht die Ausgabe zu einem Findbuch bzw. einer Fundgrube für Interessierte an württembergischer Literatur des 19. Jahrhunderts, am System der württembergischen Begabten-Auslese und -Bildung durch das System Landexamen – Seminar – Stift und der in diesem System herrschenden Pädagogik.
Da die Betroffenen selbst zu Wort kommen und dieses in der gezielten Absicht, die vierjährige Promotionsgemeinschaft witzig-satirisch zu spiegeln, dabei das je eigene literarische Können beinahe wettkampfmäßig unter Beweis zu stellen und das Textkonvolut als »Lagerbuch« aufzubewahren und der Nachwelt zu überliefern, ist dies ein singuläres authentisches Zeugnis. Dass Helmuth Mojem das lange bekannte und nur durch wenige Einzelpublikationen von einigen der 29 Texte immer mal wieder diskutierte Blaubeurer Lagerbuch in einer sehr gut lesbaren, textgetreuen Ausgabe mit Faksimiles der im Original eingefügten Zeichnungen der Seminaristen der interessierten Öffentlichkeit präsentiert und mit dem Fundus des DLA Marbach und der sonstigen württembergischen Quellen in vielen Einzelheiten vergnügt lesbar kommentiert, ist überaus verdienstvoll. Es sind eigentlich drei Bücher: erstens die faktenreiche, ein Bild der drei schwäbischen Berühmtheiten Zimmermann, Vischer und Strauß in ihren herausragenden Positionen innerhalb der Geniepromotion plus Kerner, Mörike u.a. zeichnend; zweitens das Blaubeurer Lagerbuch; und drittens der doppelte Anmerkungsapparat, der ein gutes Drittel des Bandes ausmacht und facettenreich ein Panorama der Lebenswirklichkeit und Beziehungsgeflechte schwäbischer Geistesgrößen des 19. Jahrhunderts aufscheinen lässt.
Einen kleinen, verschmerzbaren Wermutstropfen bildet der wohl vom Marketing des Verlags zu verantwortende optisch ansprechende Schutzumschlag. Einmal ist außen der Name des Herausgebers nirgends zu finden (nur im hinteren Einschlag), dann ist das im Innentitel noch vorhandene »u.a.« hinter den Autorennamen weggelassen und unterschlägt die anderen, am Lagerbuch direkt Beteiligten, und die Formulierung »eine Abiturzeitung aus vergangenen Zeiten« ist einfach nur daneben. Fazit: Das Blaubeurer Lagerbuch gehört in den Bücherschatz aller, die ein wenig abseits der hehren Literatur(wissenschaft) Spaß am »Witz der Genies« haben oder sich einfach für die württembergische Literatur oder Geistesgeschichte interessieren – ein großes Lesevergnügen.
Rüdiger Krüger
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