(Stuttgarter Schlösser 2). Michael Imhof Verlag Petersberg 2022. 272 Seiten mit zahlreichen meist farbigen Abbildungen. Hardcover 39,95 €. ISBN 978-3-7319-1265-1
Über den Verfasser des vorliegenden Bandes gibt dieser nichts preis, doch ist Joachim Brüser in der Landesbibliografie Baden-Württemberg mit 64 Publikationen vertreten und im OPAC des SWB mit nicht weniger als deren 88, unter denen, neben Monografien, Aufsätzen und Rezensionen zur Landesgeschichte Württembergs die hohe Zahl der von ihm (mit)bearbeiteten Repertorien des Hauptstaatsarchivs Stuttgart ins Auge fallen. Er ist Historiker, früher Leiter (bis 2015) des Stadtarchivs Kirchheim unter Teck sowie Privatdozent am Institut für Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften der Universität Tübingen. Auf dessen Website erfährt man dann, dass er im Staatsministerium Baden-Württemberg für das Protokoll zuständig ist. Dieser Vorspann ist nur deswegen so umfänglich ausgefallen, weil er den Verfasser des Bandes in seiner Eigenschaft als Historiker in Verbindung mit seiner Tätigkeit im Staatsministerium als doppelt geeignet ausweist, hat letzteres doch seinen Sitz in der Villa Reitzenstein, dem Gegenstand seines Buches.
Es erschien, gefördert durch das Staatsministerium, in der Reihe Stuttgarter Schlösser knapp fünf Jahre nach deren erstem Band über das Kronprinzenpalais in Stuttgart. Die Villa Reitzenstein hat, anders als das Kronprinzenpalais, das im Zweiten Weltkrieg ausbrannte und 1963 zugunsten eines Verkehrsbauwerks abgerissen wurde, die Zeitläufte überstanden, befindet sich seit 1921 im Besitz des Staates und dient seit der Nachkriegszeit als Amtssitz des Ministerpräsidenten. Die Titelfassung deutet bereits die Gliederung des Bandes in zwei Teile an, und wenn man einen Blick ins Inhaltsverzeichnis wirft, so erkennt man an den Überschriften der Kapitel, dass es sich nicht bloß um eine Publikation zur Architektur des Gebäudes handelt, sondern zugleich um eine Geschichte Stuttgarts von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute anhand der beteiligten Privatpersonen im ersten und der Politiker im zweiten Teil.
Die namengebende Helene von Reitzenstein (1853–1944), der als eine von zwei Töchtern des Verlegers, Multiunternehmers und Millionärs Eduard Hallberger (1822–1880) ein Millionenerbe zufiel, heiratete 1876 Carl von Reitzenstein, der bis zum Oberhofmeister der letzten Königin von Württemberg, Charlotte, aufstieg und 1897 verstarb. Seine Witwe ließ zwischen 1910 und 1913 in bester Halbhöhenlage den neubarocken Bau der nach ihr benannten Villa mit den Ausmaßen eines Schlosses errichten, das trotz der sich an französischen Bauten des 18. Jahrhunderts orientierenden Formen über die damals modernsten technischen Standards wie etwa eine Zentralheizung verfügte und dazu auch keine Ställe mehr hatte, sondern Garagen. Die hier resümierten Lebensumstände werden im ersten Kapitel des Bandes im Detail ausgebreitet, beginnend mit Abschnitten über die Verlegerfamilie Hallberger (im 19. Jahrhundert neben Cotta der größte Stuttgarter Verlag), die Hauptperson Helene von Reitzenstein (über ihre Testamente und ihre Mitgliedschaft in der NSDAP wird gleichfalls berichtet), ihren Mann Freiherr Karl von Reitzenstein sowie über ihre Immobilien, nicht nur solche in Stuttgart, darunter das aufwendige Mausoleum der Familie Hallberger auf dem Pragfriedhof, sondern auch Schlösser in Bayern. Das zweite Kapitel widmet sich der Villa im Besitz der Helene von Reitzenstein 1910 bis 1921 mit Informationen über die Erbauung, den ursprünglichen Zustand und das Innere der Villa bis hin zur Möblierung der Bauzeit sowie den sie umgebenden Park.
Mit dem 1921 erfolgten Verkauf der Villa an den Volksstaat Württemberg setzt das zweite Leben der Villa ein, das, im zweiten Teil zunächst chronologisch, die Zeit Württembergs bis 1933, die des Nationalsozialismus, in der auch ein Luftschutzbunker unter der Villa errichtet wird, und sodann die Villa als Amtssitz des Ministerpräsidenten seit 1945 behandelt, wo diese allerdings nicht wohnten. In allen drei Epochen kam es zu Umbauten, die jedoch wegen des steigenden Raumbedarfs des Staatsministeriums ab den 1970er-Jahren an Zahl und Umfang zunahmen und zu Neubauten auf den an die Villa angrenzenden Arealen führte und die in Erweiterungsbauten im 21. Jahrhundert und in der grundlegenden Sanierung der Villa Reitzenstein zwischen 2013 und 2015 kumulieren. Der Rezensent hat keinen Hinweis darauf gefunden (oder ihn übersehen), was das Landesamt für Denkmalpflege Baden- Württemberg dazu gesagt hat. Selbst wenn es dazu Stellung genommen hat, weiß man nicht, ob sich der Souverän nicht über Einwände hinweggesetzt hat: Man denke an den Fall des vorstehend erwähnten Kronprinzenpalais oder an den Stuttgarter Hauptbahnhof von Paul Bonatz, der – obwohl denkmalgeschützt – heute nur noch als Fragment überlebt. Es geht in diesen Kapiteln aber nicht nur um Bauliches, da auch Politiker ins Bild treten, so etwa bei Kabinettssitzungen oder mit den offiziellen Porträts der Ministerpräsidenten, die den Künstler selbst bestimmen können und die 2015 in einem langen Gang im Flur zur Bibliothek gehängt wurden.
Jedes Kapitel endet mit Anmerkungen für die Belege, die im Verzeichnis Quellen und Literatur aufgeführt sind. Es verwundert, dass bei letzterer keine einzige Publikation von Brüser selbst verzeichnet ist, obwohl er bereits mehrfach über die Villa publiziert hat (so etwa in Schwäbische Heimat 2021/2). Dazu gibt es ein Personen- sowie ein Ortsregister, ein knappes Abbildungsverzeichnis sowie den ausführlichen Bildnachweis.
Die Villa Reitzenstein – »die schönste deutsche Staatskanzlei« und ihr Park – können zu bestimmten Terminen vom Publikum besichtigt werden, worauf Ministerpräsident Kretschmann in seinem Geleitwort ausdrücklich hinweist, und so kann man Teilnehmern zur Vor- oder Nachbereitung dieses schöne Buch wärmstens empfehlen.
Klaus Schreiber
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