Titelbild eines Buches

Eckard Holler: Auf der Suche nach der Blauen Blume.

Die großen Umwege des legendären Jugendführers Eberhard Koebel (tusk). Eine Biografie.

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LIT Verlag Berlin 2020. 320 Seiten mit zahlreichen Abbildungen und einer DVD mit zwei Filmen und Liedern. Hardcover 29,90. ISBN 978-3-643-14097-5

Dem Titel des Werks, das dem »legendären« Jugendführer Eberhard Koebel (1907–1955) gewidmet ist, merkt man das übervolle Herz des Autors, des in Tübingen als Gründer des Club Voltaire wohl bekannten Eckard Holler, an. Man sollte sich aber nicht täuschen lassen. Es handelt sich nicht um ein Stück jugendbewegter Erbauungsliteratur, sondern um eine gehaltvolle und dazuhin spannend zu lesende, mit zahlreichen Fotos und Dokumenten illustrierte Biografie eines eminenten Kenners. Zum besonderen Reiz des ansprechend gestalteten Bandes trägt, neben Material aus den verschiedensten Archiven, die Bekanntschaft des Autors mit verschiedensten Zeitzeugen bei.

Der aus einer großbürgerlichen Familie stammende Eberhard Koebel (seine Mutter war eine geborene Schüle aus der Kirchheimer Textilfabrikantendynastie) ist heute einer breiteren Öffentlichkeit nicht mehr bekannt, wie kaum eine andere Person hat er indes der Jugendbewegung in Deutschland seinen Stempel aufgedrückt. Vielfach bezeugt ist sein überwältigendes Charisma – etwas, das bei sonst allen guten Eigenschaften der Schwaben, besonders der Stuttgarter, seltener anzutreffen ist. Gesprochen wird, nach seinem aus Lappland stammenden Fahrtennamen, von einem »tusk-Mythos«. In Koebels Leben und Wirken spiegeln sich darüber hinaus in exemplarischer Weise politische und gesellschaftlich-kulturelle Debatten und Wirrnisse im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Die Jugendbewegung steht nicht im besten Ruf. Sie gilt als eine »typisch deutsche«, irrationale – wenn nicht gar präfaschistische – Strömung. Dem Verfasser geht es darum, Eberhard Koebels »Gegnerschaft zur Hitlerdiktatur« zu beweisen, aber auch um ein revidiertes, im Kern progressives Bild der Jugendbewegung.

Immer wieder als »schwäbischer Wirrkopf« abgetan, gründete er 1929/30 in Stuttgart die Jungenschaft »dj.1.11«. Organisatorisch-praktisch und kulturell stilbildend von ihm geprägt, bedeutete sie nach Wandervogel und Bündischer Jugend nichts weniger als eine »Dritten Welle« der deutschen Jugendbewegung. Im Mittelpunkt stand für Koebel die Forderung nach Autonomie des Jugendbundes und ihrer Mitglieder. Dazu kam eine aufregende Mischung aus besonderer Kleidung und Symbolen, Zeitschriften in »Bauhaus-Ästhetik« und schweren BMW-Motorrädern, vielen neuen, oft russisch inspirierten Liedern und japanischem Zen-Buddhismus.

In Berlin kam Koebel in Berührung zu Nationalbolschewisten, darunter Harro Schulze-Boysen, der eine Zeitlang in Koebels »Rotgrauer Garnison«, seiner dortigen Wohn- und Arbeitsstätte, wohnte. Nach Bekanntschaft mit Richard Scheringer, der sich, im »Ulmer Reichswehrprozess« noch wegen nationalsozialistischer Umtriebe zu Festungshaft verurteilt, »in die Front des wehrhaften Proletariats eingereiht« hatte, trat Koebel 1932 der KPD bei. Nur kurz darauf folgte indes wieder eine Wende: Koebel verließ 1933 die Partei und gab als Parole »Hinein in die Hitlerjugend« aus. Umstritten ist, ob hinter dieser Wendung eine Doppelstrategie stand, mit der er die Eigenständigkeit seiner Gruppen als »Trojanisches Pferd« erhalten wollte. Unter dem Vorwurf von »Zersetzungsversuchen der Hitlerjugend« wurde er jedenfalls im Januar 1934 in Gerlingen verhaftet und nach Berlin in das berüchtigte Gestapogefängnis »Columbia-Haus« gebracht. Nach zwei Selbstmordversuchen schwer verletzt, emigrierte er im Herbst des Jahres nach England.

In der Illegalität bestanden in den 1930er-Jahren »dj.1.11«-Gruppen als Teil eines Jugendwiderstands weiter. Eine besondere Rolle spielte dabei die parallel zur Hitlerjugend organisierte Ulmer Gruppe unter Leitung von Hans Scholl, was 1937 zu Ermittlungen wegen »bündischer Umtriebe«, aber auch »sittlicher Verfehlungen« führte.

In London suchte Koebel, wohl in der Hoffnung, künftig eine Führungsposition bei der »Einigung der deutschen Jugend« spielen zu können, Kontakt zur dort 1939 gegründeten FDJ. Erst 1948 gelang eine Repatriierung nach Ostberlin, wo die in mehreren Briefen von Erich Honecker angedeutete Tätigkeit für die Jugendorganisation jedoch nicht zustande kam. 1951 wurde er wegen »feindlicher und zersetzender Tätigkeit« aus der SED ausgeschlossen und 1953 kurzzeitig unter dem Vorwurf der Spionage inhaftiert. Am 2. September 1955 erlag Eberhard Koebel einem Schlaganfall. Seine Urne wurde in das Familiengrab auf dem Stuttgarter Pragfriedhof überführt. Die Stadt hat die Grabstelle 2019 in öffentliche Pflege übernommen.

Die von Koebel angestoßene Jungenschaftsbewegung entwickelte sich seit den 1950er-Jahren in, auch politisch, unterschiedliche Richtungen. Auf ihre Mitglieder, zu nennen ist vor allem Peter Rohland aus Göppingen, gehen die Folklore-Festivals auf der Burg Waldeck zurück. Nicht übertrieben ist es, von einem kulturgeschichtlichen Ereignis zu sprechen, bei dem von 1964 bis 1969 engagierte Liedermacher eine neue Ära deutschsprachiger Lieder eingeleitet haben. In den dort gesungenen Liedern lebt auch etwas von Eberhard Koebel weiter.

Claus-Peter Clostermeyer

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