Titelbild eines Buches

Wilfried Setzler (Hg.): Robert Hirsch (1857–1939)

Ein jüdischer Schwabe, seine Familie und seine Erinnerungen

Titelbild eines Buches

Herausgegeben, editiert und kommentiert von Wilfried Setzler, mit je einem Beitrag der Geschichtswerkstatt Tübingen und Manuel Mozer. (Beiträge zur Tübinger Geschichte Bd. 15, hrsg. vom Fachbereich Kunst und Kultur). Jan Thorbecke Verlag Ostfildern 2023. Hardcover 26,80 €. ISBN 978-3-7995-2046-1

Die Ansiedlung von Schutzjuden in Wankheim südlich von Tübingen durch die Familie der Freiherren von Saint André seit 1774, also vor genau 250 Jahren, bildet den Anlass für die vorliegende Veröffentlichung, in deren Mittelpunkt die Autobiografie des aus Tübingen gebürtigen und überwiegend in Ulm tätigen jüdischen Rechtsanwalts Dr. Robert Hirsch steht.

Der von Wilfried Setzler verantwortete und fein kommentierte editorische Teil des Buches mit den autobiografischen Aufzeichnungen umfasst ca. drei Fünftel des Gesamtwerks. Dabei hat er den Text nicht nur durch eine Vielzahl von interessanten Anmerkungen erläutert, die zahlreichen Abbildungen wecken das Interesse der Leser und machen zudem neugierig auf den Text.

Um diesen herum gruppieren sich mehrere Beiträge zur Familie Hirsch, ihre aus Wankheim stammenden Vorfahren und ihre Nachfahren, die dem NS-Terror und ihrer Verfolgungspolitik u.a. nach USA und Südafrika entkommen konnten und dort eine neue, tolerante Heimat fanden; einige von ihnen kamen als Gäste der Stadt Tübingen an die Lebensorte ihrer Vorfahren zurück.

Bereits mehr als fünf Jahrzehnte dauert die Aufarbeitung der jüdischen Geschichte von Tübingen an. Nach der ersten Veröffentlichung Die Tübinger Juden von Lilly Zapf 1974 erschien 1995 die Publikation der Geschichtswerkstatt Tübingen Zerstörte Hoffnungen. Wege der Tübinger Juden in der vom Kulturamt Tübingen herausgegebenen Reihe Beiträge zur Tübinger Geschichte. Die damals gelegten Pfade zur jüdischen Geschichte Tübingens sind seitdem immer wieder neu beschritten und um viele Kenntnisse erweitert worden.

Die neue Publikation wurde von Wilfried Setzler, einigen Mitgliedern der Geschichtswerkstatt Tübingen (Ulrike Baumgärtner, Monika Schober und Martin Ulmer) und Manuel Mozer, Archivar der Gemeinde Kusterdingen, und mit dessen kundigem Zugriff auf das Gemeindearchiv Wankheim verfasst.

Lesenswert ist neben der Einführung in die Quellenedition die Einleitung, die u.a. die komplexe Überlieferung der verschiedenen lebensgeschichtlichen Quellen aus der Hand Robert Hirschs im Familienbesitz, im Leo Baeck Institut in New York und die ausgewerteten Archivbestände und Datenbanken erläutert. Erstmals wurde hier der handschriftlich überlieferte zweite Teil von Hirschs Lebenserinnerungen veröffentlicht.

Dem Juristen Robert Hirsch blieb der Zugang zu seinem eigentlichen Berufsziel als Richter im württembergischen Staatsdienst aufgrund seiner jüdischen Herkunft verwehrt. Der württembergische Justizminister Eduard von Faber erklärte Hirsch im Februar 1886 unverblümt, dass er ihn aufgrund seiner Konfession nicht in den höheren Staatsdienst übernehmen werde, und empfahl ihm, den Rechtsanwaltsberuf zu ergreifen. Hirsch erhielt die Zulassung als Rechtsanwalt beim Landgericht in Ulm und blieb dies bis in sein 75. Lebensjahr. Seit 1923 war er zudem Notar, was er als Höhepunkt seiner juristischen Karriere empfand. Darüber hinaus war Hirsch ein engagierter Bürger Ulms als Sekretär der Ulmer Freimaurerloge »Carl zu den Ulmen« und Mitglied der (nationalliberalen) Deutschen Partei sowie als aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde. Die Eingabe zur Neuregelung der »Rechtsverhältnisse der Israeliten in Württemberg« an die Abgeordnetenkammer des württembergischen Landtags 1897/99 trug seine Handschrift, 1912 wurden infolge der Eingabe die jüdischen Gemeinden Württembergs zu einer Körperschaft öffentlichen Rechts erklärt. In den 1920er-Jahren verwehrte er sich als Vorsitzender der Ulmer Ortsgruppe des »Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« gegen den immer stärker werdenden Antisemitismus.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 musste Hirsch seine Anwaltskanzlei in Ulm aufgeben und zog zur Familie seiner Tochter Minna nach Stuttgart. Dort verfasste er 1934–1937 die nun edierten autobiografischen Aufzeichnungen, sie enden jedoch 1933, weshalb der Herausgeber einen Bericht seines Schwiegersohns Theodor Hirsch über die Reichspogromnacht 1938 in Stuttgart und die Folgen für die Familie hinzugefügt hat. Die Terror- und Verfolgungsmaßnahmen der folgenden Wochen brachten Robert Hirsch dazu, seinem Leben am 14. Januar 1939 ein Ende zu setzen. Seine Witwe floh 1941 mit Tochter und Schwiegersohn in die USA, die beiden Enkelinnen waren bereits im Juni 1939 nach England ausgereist.

Über die biografischen Ausführungen hinaus lassen die Tiefe und Breite der Beiträge ein lebendiges Bild zur Geschichte der jüdischen Minderheit in Württemberg vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus entstehen und stellen so eine sehr eindrucksvolle wie wertvolle Quellensammlung zur Landesgeschichte dar.

Eva-Maria Klein

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