Hrsg. Peter Sprengel. Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 209 Seiten, 12 teils farbige Abbildungen. Hardcover € 28. ISBN 978-3-8353-5620-7
Auf Heinrich von Rustiges bekanntem Bild »Im Garten bei Justinus Kerner« steht er am Rand: Die Hand auf den Stuhl von Ludwig Uhland gestützt, schaut Karl August Varnhagen von Ense in die Runde der zu Weinsberg versammelten Romantiker. Das entspricht seiner Rolle, er war ein etwas distanzierter, aber durchaus teilnehmender Beobachter, dessen Denkwürdigkeiten des eignen Lebens wir auch Einblicke ins Tübinger Geistesleben um 1808 verdanken. Eingeflossen in die Autobiografie sind Varnhagens Reiseblätter, die der Berliner Germanist Peter Sprengel neu herausgegeben hat. Es handelt sich um Aufzeichnungen einer fünfwöchigen, teils zu Fuß absolvierten Deutschland-Tour, die Varnhagen und den Schweizer Freund Nikolaus Harscher von Berlin nach Tübingen führen. Die Medizinstudenten wollen nach Aufhebung der preußischen Landesuniversität Halle durch Napoleon ihre Studien in Tübingen fortsetzen. Es ist auch ein Aufbruch aus dem Zwiespalt: Varnhagen verlässt seine Geliebte und spätere Ehefrau Rahel Levin; sie sollte als Schriftstellerin und Salonnière Rahel Varnhagen bekannter werden als ihr Mann. An sie und den Berliner Freundeskreis um Adelbert von Chamisso sowie an die gleichfalls begehrte Fanny Hertz in Hamburg sind die Blätter in erster Linie gerichtet.
Über die Stationen Berlin, Dresden, Bayreuth (wo man Jean Paul besucht) und Nürnberg erreichen die Freunde am 2. November 1808 Tübingen. Varnhagen zeigt sich entsetzt: »Tübingen ist das ausgesuchteste, verfluchteste Nest, das ich gesehen habe, bei den Hottentotten muß es auch solche Häuser geben, schwarz, klein, und baufällig! Die Straßen sind voll Mist, und Most, die beide unangenehm riechen.« Zudem beklagt er die »erbärmliche« Bibliothek und das ungenügende Lehrangebot. Harscher reist gleich weiter nach Basel, Varnhagen bleibt, wendet sich literarischen Studien zu und freundet sich mit dem Medizinstudenten Justinus Kerner an. Er beschreibt ihn als »unschuldiges kindliches Gemüth« ohne besondere Bildung, attestiert ihm zumindest »höheren Sinn«. Später nimmt er Kerners »schlaue« naturkundliche Versuche und dessen Nähe zur Parapsychologie wahr. Aber er moniert, Kerner lege den »rohen Landesdialekt« nicht ab, sei unreinlich, trinke schlechten Wein, habe einen schlichten literarischen Geschmack: »In der Poesie ist ihm das Wunderbare der Volksromane und der einfache Laut ungebildeter Kraft in den Volksliedern, am meisten zusagend, und der Sinn für die Werke gebildeterer Kunst zurücktre tend.« Das tut der Herzlichkeit keinen Abbruch, Varnhagen bleibt mit Kerner wie mit Ludwig Uhland lange verbunden.
Varnhagens Tübingen-Schelte schließt an Friedrich Nicolais Reisebericht von 1781 an: »Ich kenne keine Stadt in Deutschland von einiger Bedeutung, deren äußeres Ansehen so häßlich wäre, als diese.« Auch Nicolai echauffiert sich über krumme Gassen und stinkende Misthaufen. Kerner versucht, Varnhagen den Aufenthalt dennoch angenehm zu machen. Sie besuchen Hölderlin, Varnhagen notiert in den Denkwürdigkeiten: »Er raset nicht, aber spricht unaufhörlich aus seinen Einbildungen.« In Reutlingen lernt er den Drucker Justus Fleischhauer kennen, dort lobt Kerner die Profession des »Nachdruckers«, »der zunächst am Volke steht«; das ändert sich, als seine eigenen Werke abgekupfert werden.
Kerner hat eine Studierstube im »Neuen Bau« in der Münzgasse und Varnhagen gibt eine wunderbare Beschreibung der Tiermenagerie, die sich Kerner dort für Versuche hält. Ums Eck liegt das Haus von Johann Friedrich Cotta, Varnhagen besucht den Verleger Goethes und Schillers, der ihm das Geld für die Rückreise vorstreckt. Andererseits fühlte er sich der schwäbischen Dichterschule und deren Kritik an Cottas Klassikern verpflichtet, die sie als langweilig-formstrenge »Plattisten« verspotten; ihr handgeschriebenes Sonntagsblatt für gebildete Stände ist der Gegenentwurf zu Cottas Morgenblatt für die gebildeten Stände. Und es ist wieder nicht ohne Ironie, dass der dem Kreis zugehörige Gustav Schwab Redakteur des poetischen Teils des Morgenblatts werden und Varnhagen darin Auszüge aus Rahels Briefen veröffentlichen sollte.
Sprengel hat die Reiseblätter mit ausführlichen Quellennachweisen versehen, so werden historischer Kontext und viele Anspielungen verständlich; die kundige Edition macht das Buch rundum zum Lesevergnügen. Im Nachwort weist Sprengel nach, dass es sich auch um eine Bildungsreise handelt, deren Motive Dichtung und Kunst, etwa die Dresdener Gemäldesammlung und Jean Paul, die Politik mit preußischer Heeresreform und Opposition gegen Napoleon oder Freundschaft und Liebe zu den Adressaten sind. Das schlägt sich in einem von Varnhagen parallel verfassten Roman nieder, »Reise- und Romanwelt gehen tendenziell ineinander über«, so Sprengel. Varnhagen ist ein Augenzeuge mit Tatsachenblick, auch wenn Vorurteile bisweilen seine Sicht trüben. Bald nach seinem Tübingen-Aufenthalt tritt er in die österreichische Armee ein, nimmt (später auch in russischen Diensten) am Krieg gegen Napoleon teil und begleitet Karl August von Hardenberg zum Wiener Kongress. Bei aller Nähe zur Romantik ist Varnhagen als Chronist dann doch Realist.
Wolfgang Alber
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