Ministerium für Finanzen und Wirtschaft Baden-Württemberg (Hrsg.). Redaktion: Hendrik Leonhardt, mit einem Beitrag von Claus Wolf. 224 S., 180 fast durchweg farbige Abbildungen. Belser Verlag, Stuttgart 2012, € 29,95. ISBN 978-3-7630-2624-1
2012 feiert Baden-Württemberg seinen 60. Geburtstag. Dies gibt Anlass für vielfältige Rückblicke auf sechs Jahrzehnte und insbesondere auf die Gründungsphase unseres Landes. Dabei wird manche Überraschung zu Tage gefördert, wie dieses Buch zeigt. Jedem, der sich für Architektur und Design interessiert, ist schon seit geraumer Zeit bewusst, welchen Schatz an Bauten und Innenräumen der Fünfziger Jahre unsere Städte trotz vieler Verluste und Veränderungen bereit halten.
Haben wir nicht gelegentlich und allzu lange die Nase gerümpft, wenn die Sprache auf die Wohnwelt der Nachkriegsgeneration kam? Nierentisch, Gummibäume, Blumenfenster, Messinggriffe und vieles mehr … Und auch mit der Architektur wussten lange Zeit nur wenige etwas anzufangen. An ihr konnte man sich nicht so gut reiben wie etwa an der Postmoderne in den 1980er-Jahren. Und dann – sei es aus einem Nostalgiegefühl heraus oder aus echter Erkenntnis – fanden wir heraus, wie wunderbar leicht und offen diese Architektur im Kleinen wie im Großen sein kann und dennoch höchst funktional zugleich, wie unprätentiös sie vor allem ist, meist stillos in ihrem allerbesten Sinne, nämlich nicht verkrampft auf der Suche nach irgendwelchen national- oder kulturgeschichtlichen Verknüpfungen, sondern eine neue Schlichtheit und Eleganz repräsentierend, die nach 1945 auch dringend geboten war. Und dann stellten wir ebenfalls fest, dass dieser neue Stil, der keiner sein wollte, bei genauem Hinsehen eben doch historische Bezüge aufwies in eine andere Phase der Stilüberwindung dreißig Jahre zuvor: die Zwanzigerjahre. Man denke nur an den Kanzlerbungalow in Bonn, der ohne Mies van der Rohes gänzlich unnationalistischen Deutschland-Pavillon von 1929 in Barcelona kaum denkbar ist.
Wie das vorliegende Buch anschaulich macht, besteht die dritte Erkenntnis darin, dass die Baukunst der 1950er Jahre Außen- und Innenarchitektur gleichermaßen war, dass sie – wie es uns die rüde verfolgten Bauhaus- und Werkbunddesigner schon Jahre zuvor aufgetragen hatten – je nach Aufgabenstellung von innen nach außen entwickelt war, dass hier nicht schöner Schein um seiner selbst Willen, oder um eine Staatsidee zu repräsentieren, vorgeblendet wurde, sondern Form, Funktion, Farbe, Material, Lebensraum und Mensch ineinandergreifen, weshalb Hendrik Leonhardt in seinem einführenden Aufsatz … mehr als Nierentisch und Milchbar auch zu Recht den Begriff Gesamtkunstwerk verwendet.
Vor die Aufgabe gestellt, zum Landesjubiläum kein erschöpfendes Inventar, sondern einen räumlich wie inhaltlich weit ausgreifenden Überblick über die verschiedenen Bauaufgaben und Umsetzungen anhand weniger, aber herausragender Beispiele zu geben, entstand dieses Buch. Es ist ein prachtvoller Bildband geworden mit meist aktuellen Innen- und Außenaufnahmen von rund 60 Objekten jener Epoche, die vom Wohnhaus bis zur Tankstelle, vom Fernsehturm bis zum Friedhof, vom Konsulat bis zur Kirche, von der Fabrik bis zur Schleuse, vom Kino bis zum Landratsamt, von der Schule bis zum Gefallenendenkmal, von der Festhalle bis zum Hallenbad reichen und die gesamte Bandbreite nahezu aller möglichen Aufgaben repräsentieren. Erläutert werden die Leistungen der Bau- und Bildkünstler durch die ausführlichen Begründungstexte zur Kulturdenkmaleigenschaft, die Hendrik Leonhardt, wo es erforderlich war, in eine für ein breites Publikum lesbare Sprache übertrug.
Was tut sich einem hier nicht alles auf? Glas- und Wandmalereien in einer seit dem Mittelalter und der Barockzeit nicht mehr gekannten Ausdruckskraft, wie im Badehaus Badenweiler, im Heidelberger Hauptbahnhof, im Friedrichshafener Rathaus, in der Karlsruher Konradskirche oder in St. Ludwig zu Freiburg; vermeintlich banale Funktionsbauten, die in den Händen ihrer Schöpfer zu Skulpturen wurden, wie eine Tankstelle in Freiburg, eine Straßenbahn-Wartehalle in Karlsruhe oder zwei Ländebauten am Bodensee; zahlreiche Schulen, Industrie- und Verwaltungsgebäude, die eine lange unterdrückte Materialgerechtigkeit in Beton, Stein, Glas und Metall zeigen; sowie schließlich herausragende Sakralbauten mit faszinierenden Licht- und Raumwirkungen.
Es mag schon richtig sein, dass von den unzähligen architektonischen Missgriffen jenes Jahrzehnts keine Rede ist, obwohl auch sie ein Teil der Epoche sind. Auch kommt nur zwischen den Zeilen zur Sprache, dass für manches 50er-Jahre-Highlight eines aus einer früheren Zeit verlorenging. Doch dies ist nicht die Aufgabe eines Jubiläumsbandes. Stattdessen macht das Buch richtiggehend Lust, sich zunächst anhand der Bilder und Texte auf eine ausgedehnte Entdeckungsreise durch unser Land zu begeben, um diese Entdeckungen beim nächsten Halt in einem Bahnhof, beim Konzertbesuch oder Badeaufenthalt, beim nächsten Vortrag im Sitzungssaal des Rathauses oder der Aula in der Schule, im Finanzamt oder gar in der eigenen Firma zu erweitern. Aus gutem Grund weist Claus Wolf in seiner Einführung darauf hin, dass es sich hier zwar nicht um Burgen, Schlösser oder Klöster, aber dennoch um Kulturdenkmale handelt und mithin um unser kulturelles Erbe.
Bernd Langner
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