Titel eines Buches

Alltag, Konflikt, Wandel. In Nachbarschaft zum Kernkraftwerk

Karin Bürkert (Hrsg.) Hrsg. von der Tübinger Vereinigung für Empirische Kulturwissenschaft e.V., Tübingen 2024. Paperback, 20 €. ISBN: 978-3-947227-16-7

Titel eines Buches

Die Untersuchung einer einzelnen Gemeinde ist schon lange ein eigener Forschungszweig innerhalb der Volkskunde. Anstelle der traditionellen Dorfforschung, die sich vielfach auf Reliktforschung von Sachkultur oder Bräuchen konzentrierte, setzte Hermann Bausinger 1957 mit der von ihm geleiteten Studie über »Neue Siedlungen« neue Impulse. Sein Interesse galt den Anfang der 1950er-Jahre durch den Zuzug von Heimatvertriebenen entstandenen Siedlungen. In den 1970er-Jahren war das Dörfchen Kiebingen Gegenstand umfangreicher ethnografischer wie mikrohistorischer Untersuchungen durch Utz Jeggle und Albert Ilien sowie Wolfgang Kaschuba und Carola Lipp. Demgegenüber setzte 2006 ein studentisches Projekt des Ludwig-Uhland-Instituts unter Reinhard Johler den Fokus auf eine ebenso bekannte wie außergewöhnliche schwäbische Kleinstadt, die »Outlet City« Metzingen.

Auch dieses letzte, von 2022 bis 2024 durchgeführte, neueste studentische Projekt unter der Leitung von Karin Bürkert hatte eine Gemeinde in einem besonderen Kontext im Blick: Neckarwestheim, ein Dorf in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem Atomkraftwerk. Der konkrete Anlass für diese Studie war die Abschaltung des AKWs am 14. April 2023 im Rahmen des von der Bundesregierung beschlossenen Atomausstiegs. Einige Ergebnisse ihrer Studie hat die Projektleiterin bereits in der Schwäbischen Heimat (SH 2024|3) vorgestellt.

Mit Archivarbeit, Auswertung von historischen Zeitungen, Interviews oder teilnehmender Beobachtung wandte die studentische Arbeitsgruppe Methoden der »klassischen« Gemeindeforschung an. Sie bearbeitet dabei auch Themen wie das für den ländlichen Raum so typische allmähliche Verschwinden von dörflichen Gastwirtschaften in Neckarwestheim und Gemmrigheim.

Demgegenüber ist die »rasante« bauliche Entwicklung Neckarwestheims keineswegs generell auf andere Dörfer übertragbar. Die reichlich fließende Gewerbesteuer ermöglichte dem Ort als »eine der reichsten Gemeinden Baden- Württembergs« aufwändige kommunale Bauten wie Rathaus, Schulbauten oder eine große Gemeindehalle. Interessant ist schließlich die Frage nach dem Selbstverständnis des Ortes: Wie stellte sich Neckarwestheim in seinem 2023 gefeierten 900-Jahr-Jubiläum dar? Jessica Reichert charakterisiert den Spannungsbogen mit den Worten »Zwischen Atomkraft und Wein«.

Ein Schwerpunkt für die studentische Arbeitsgruppe war jedoch die Befragung der Bewohnerinnen und Bewohner Neckarwestheims. In Interviews sollte die gegenwärtige Situation im Dorf und die Einschätzung von dessen strukturellem Wandel erkundet werden, aber auch die Haltung zum benachbarten Atomkraftwerk, im Buch stets korrekt als »Gemeinschaftskernkraftwerk Neckar« (GKN) bezeichnet. Während der Zugang zu älteren Einwohnern über die Vereine oder Seniorenclubs problemlos gelang, waren jugendliche Gesprächspartnerinnen und -partner deutlich schwerer erreichbar. Als ein erfolgreicher Weg erwies sich schließlich ein Foto-Wettbewerb zum Thema »Lieblingsorte in Neckarwestheim«.

Auffallend ist allerdings, wie groß die Skepsis eines Großteils der Neckarwestheimer Bevölkerung gegenüber den zahlreichen Protestaktionen seitens der Atomkraftgegner war, die vielfach von auswärts kamen. Noch stärker galt dies für die Beschäftigten des Kernkraftwerks; pointiert ist der Beitrag über diese mit dem Zitat »Wir waren immer die Bösen« überschrieben. Sie betonten in den Interviews ihre bewusste Entscheidung, in einem Kernkraftwerk zu arbeiten, und legten großen Wert auf ihre Zugehörigkeit zum Betrieb. Thematisiert wird schließlich auch die zwiespältige Gefühlslage vieler Bewohnerinnen und Bewohner von Neckarwestheim, nachdem das AKW im April 2023 abgeschaltet wurde.

Demgegenüber stellt ein weiteres Kapitel die verschiedenen Phasen des lokalen Anti-Atom-Protests und des Widerstands gegen das Kernkraftwerk dar, der jedoch vielfach auf globale Ereignisse wie Harrisburg, Tschernobyl oder Fukushima reagierte. Indessen erwies es sich als schwierig, Zeitzeugen für den Anti- Atom-Protest aus Neckarwestheim selbst zu gewinnen; offensichtlich hielten sich die Kritiker innerhalb des Dorfes stark bedeckt.

Tatsächlich sorgte der lokale Bezugsrahmen dafür, dass vor Ort immer die Gegner und Befürworter präsent waren. Indessen betont die Herausgeberin Karin Bürkert in der Einleitung, dass die Gruppe bewusst keine Stellung zur Debatte um die Atompolitik beziehen wollte. Vielmehr ging es den Autorinnen und Autoren darum herauszufinden, ob und wie sich die Geschichte einer Entscheidung auf bundesdeutscher Ebene mikroperspektivisch ablesen lässt (S. 17). Dieses Ziel ist dem Forschungsprojekt mit ihrer vielseitigen und differenzierten Darstellungsweise zweifellos gut gelungen.

Nikolaus Back

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