Fünf Jahre nach der Gründung des Deutschen Bundes Heimatschutz in Dresden, wurde am 12. März 1909 in Stuttgart dessen württembergische Landesgruppe, der „Württembergische Bund für Heimatschutz“, unter glänzender Beteiligung einer großen Zahl von Männern und Frauen, Gelehrten und Künstlern, Fabrikanten, Offizieren, Beamten und Vertretern der Presse aus der Taufe gehoben, der seit 1949 den Namen Schwäbischer Heimatbund führt. Den Vorsitz der Versammlung hatte der Tübinger Professor für Volkswirtschaftslehre Dr. Carl Johannes Fuchs, Gründungs- und Vorstandsmitglied im Deutschen Bund Heimatschutz, der zu Beginn der Sitzung programmatisch formulierte: Die Hauptaufgaben des Heimatschutzes erwachsen heute gerade in Württemberg aus der täglich fortschreitenden und noch einer großen Zukunft fähigen Industrialisierung des Landes. Wir erkennen die volkswirtschaftliche Notwendigkeit dieses Prozesses voll an und denken nicht daran ihn zu bekämpfen, was wir doch nicht vermöchten. Aber wir sehen unsere Hauptaufgabe darin, ihn zu beeinflussen, nicht mehr des Alten zerstörend, als wirklich notwendig.
Dass der Tübinger Alleenstreit, der in jenen Tagen seinen Höhepunkt erlebte, den Ausschlag für die Gründungsversammlung gegeben hat, dass er geradezu ursächlich für sie gewesen sein soll, wie gelegentlich behauptet wird, lässt sich aus den Akten nicht belegen. Dass er dabei aber eine gewichtige Rolle spielte, und etwa die Wahlen zum Vorstand des neuen Bundes beeinflusst hat, ist sicher. Beide Stellvertreter des neuen Vorsitzenden Professor Paul Schmohl, Direktor der Kgl. Baugewerkeschule in Stuttgart, stammten aus Tübingen und hatten sich im dortigen Streit um die Alleen als Vorkämpfer für deren Erhalt hervorgetan. Gewählt wurden der schon erwähnte Professor Fuchs, der als Nichtschwabe eine Kandidatur auf den Vorsitz abgelehnt hatte, sowie der Tübinger Kunsthistoriker Professor Dr. Konrad Lange, der sich als engagierter Umweltschützer mit spitzer Feder weit über Württemberg hinaus Freunde – und Feinde – geschaffen hatte.
„Das Kleinod der Musenstadt“ – Tübingen und ihre herrlichen Alleen
Zwar kann man in den Tübinger Blättern des Jahres 1901 noch lesen: Das Kleinod unserer Musenstadt sind ihre herrlichen Alleen, die in ihrer Eigenart weithin im Lande ihresgleichen suchen. Der Schönheitssinn früherer Geschlechter, gepaart mit der Freude an der herrlichen Gottesnatur, hat sie in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in anmutiger Mannigfaltigkeit erstehen lassen […] sie zu erhalten und zu pflegen, ist eine vornehme Aufgabe unserer Stadtgemeinde.
Doch schon wenige Jahre danach war ein großer Teil der Alleen gefällt und die Anlage insgesamt bedroht. Bereits im selben Jahrgang der Tübinger Blätter, aus dem das vorstehende Zitat stammt, werden Neubaupläne vorgestellt, die eine Beeinträchtigung der im Neckartal angesiedelten Alleen befürchten lassen. In der Planung sind dann bald eine erweiterte Wohnbebauung zwischen Bahnhof und Neckar, der Bau eines Güterbahnhofs mit einem Kohlenlager, gewaltige Neckarkorrekturen mit Schutzdämmen, eine Schlittschuhbahn mit See, zusätzliche Schulgebäude, eine Badeanstalt und schließlich (noch 1906 streng vertraulich) die neue Eisenbahntrasse von Tübingen nach Herrenberg. Deutlich wird, dass Industrie angezogen und gefördert werden soll, dass, wie man den städtischen Akten entnehmen kann, das Gesamtleben einen rascheren Pulsschlag bekommen soll und man bereit ist, das einstige Kleinod den Erfordernissen der Zeit zu opfern, wenn nicht ganz, so doch weitgehend.
Im Jahrgang 1907 der Tübinger Blätter heißt es beim Thema Neue Bauten in Tübingen beispielsweise lapidar: Der sanfte, ebene, alleendurchzogene Wiesenplan des mittleren Wöhrds ist dahin. Weiter stellt der anonyme Verfasser fest: Die Akazienallee sieht ihrem Ende entgegen oder die Weidenallee, die so hübsch hergerichtet worden war, wird verlieren. Auch Klagen über immer neue Baumfällungen, wie sie am 29. August und am 28. September 1908 im „Tagblatt“ zu Wort kamen, verhallten, blieben zumindest ohne Echo.
Selbst der in Stadt und Land angesehene und hoch geschätzte Eugen Nägele, bis 1907 Vorsitzender des Tübinger Verschönerungsvereins, Gründer des Schwäbischen Albvereins und Herausgeber der „Tübinger Blätter“ schien sich damit abzufinden, schrieb er doch zum Jahresende 1908: Das Hervorragendste, was in Tübingen im Jahr 1908 geleistet wurde, ist der Abschluß der Vorbereitung ganz gewaltiger Veränderungen und Unternehmungen, an die man nunmehr herantritt. Es nützt nichts, solche Aenderungen mit Klagen und Beschwerden zu begleiten. Große Dinge treten nicht ohne allerlei Wehen ins Dasein, und um große Dinge, um Millionenbauten handelt es sich jetzt in Tübingen von Seiten des Staates und der Stadt. Beschwichtigend und beruhigend meint er weiter: Die ‚Zukunft Tübingens‘ liegt am Neckar, und da am Neckar unsere Alleen stehen, so blickt mancher besorgt in deren Zukunft. Die Akazienallee ist zum größten Teil durch die Verlängerung der Uhlandstraße und den im Herbst 1908 begonnenen großen Bau der Realschule gefallen […] In voller Schöne aber prangt noch die Platanenallee, und wir wüssten keinen Grund sie für verloren zu geben.
Doch genau dies begannen nun einige Tübinger, deren Wortführer die Professoren Carl Fuchs und Konrad Lange wurden, zu befürchten. Bestätigt sahen sie sich in ihrer Sorge durch Äußerungen, wie sie auf einer Sitzung des Stadtrats am 19. Dezember 1908 gefallen sind. Dort war im Zusammenhang mit der Trassenführung der Eisenbahn nach Herrenberg einem auf die Schonung der schönen alten Lindenbäume dringenden Bürgerausschussmitglied vom Ratsvorsitzenden eröffnet worden, gewiß werde man dem dortigen Baumbestand alle nur mögliche Schonung angedeihen lassen, schließlich dürfe man aber doch auch in der Erhaltung alter Bäume nicht zu weit gehen, wenn wichtigere, auf viele Jahrzehnte hinaus vorliegende Interessen dem entgegenständen. Und ein „angesehenes“ Ratsmitglied hatte gar bemerkt, dass man sich doch keinen Illusionen hingeben dürfe und das Verschwinden sowohl der Linden- wie der Platanenallee nur eine Frage der Zeit sei.
Professor Konrad Lange und die Universität gegen Gemeinderat und Oberbürgermeister
Nun sah sich Konrad Lange zu einer geharnischten Stellungnahme herausgefordert. Unter Berufung auf Goethe, den geistigen Urheber der Heimatschutzbewegung, verfasste er einen langen und in scharfem Ton gehaltenen Artikel Die Tübinger Alleen, der am 2. Januar 1909 im „Neuen Tagblatt und General-Anzeiger für Stuttgart und Württemberg“ veröffentlicht wurde. In ihm ersuchte er die kompetenten Stellen um eine formelle Aufklärung darüber wie viel von den Alleen durch die gegenwärtige schwebende Bauprojekte […] tatsächlich fallen wird.
Er warf der Stadtverwaltung eine Informationen verschleppende, ja gar unterschlagende Politik vor: Denn es ist in der Tat so, dass bei uns weitere Kreise von den Konsequenzen, die die verschiedenen Bauprojekte nach sich ziehen, in der Regel nichts erfahren. Ja sogar Sachverständige kommen meistens erst dann zu Worte, wenn die Fragen, um die es sich handelt, so gut wie entschieden sind. So habe beispielsweise der Senat der Universität gegen die Führung der Ammertalbahn durch den Schlossberg und die Alleen protestiert, weil dadurch das Landschaftsbild der Neckarhalde und der Alleen verdorben, besonders die Lindenallee geschädigt würde. Doch natürlich ohne jeden Erfolg, da die Trace längst beschlossen gewesen sei.
Die Reaktion auf diesen Artikel ließ nicht lange auf sich warten. Vehement wiesen der Oberbürgermeister und die Gemeinderäte auf einer Sitzung am 9. Januar die Forderungen Langes zurück, in welcher die Tatsachen in unerhörter Weise entstellt und unsere Stadt verächtlich gemacht worden ist. Sie unterstellten der sich in Langes Worten offenbarenden Heimatschutzbewegung den Hang zur Idylle und die Verweigerung alles Neuen. Sie wolle nur erhalten, was unsere Altvorderen geschaffen haben und das sind oft recht prosaische Dinge. Oberbürgermeister Dr. Hermann Haußer betonte, die Stadtverwaltung habe wahrlich noch andere Aufgaben, als dafür zu sorgen, dass sich die Angehörigen der Universität in unserer Stadt einer beschaulichen Ruhe hingeben können. Er versicherte der Universität aber auch, er sei nach wie vor überzeugt, dass die untrennbare Interessengemeinschaft von Stadt und Universität das erste Fundament der Wohlfahrt unseres Gemeinwesen ist. Tübingen sei eine Universitätsstadt und niemand habe jemals den Ehrgeiz gehabt, daraus ein Industriestädtchen zu machen.
Spöttisch bemerkte der Gemeinderat Dr. Franz Keller: Wir haben in den letzten zehn Jahren sehr Vieles wirklich verschönert und ich hoffe, wir werden – trotz Lange – noch sehr Vieles verschönern, auf dass unsere Nachkommen einstmals noch reichlicher Gelegenheit haben als wir, ‚Heimatschutz‘ zu üben.
Die Parteien formierten sich. Der Rektor der Universität stellte sich vorsichtig hinter Lange und bot der Stadtverwaltung am 4. Februar vermittelnd an, ein Gutachten bei dem Publizisten und Architekten Paul Schulze-Naumburg einzuholen, einem der geistigen Väter der Heimatschutzbewegung, später Wegbereiter, Freund und Förderer der Nazis. Am gleichen Tag meldet sich das für den Denkmal- und Landschaftsschutz zuständige Stuttgarter Ministerium für das Kirchen- und Schulwesen und bat um Zusendung der Baupläne für die Eisenbahntrasse wie für die weiteren Bauvorhaben.
„Alleengezänk“ spaltet Stadt in zwei Lager – Eugen Gradmann und Paul Bonatz Gutachter
Die Ereignisse begannen sich zu überstürzen. Am 5. Februar legt Lange eine mit 531 Unterschriften versehene Eingabe an den Tübinger Gemeinderat vor mit der Forderung, diese Pläne vor ihrer Ausführung noch einmal einer gründlichen Nachprüfung seitens eines im Gebiete des Städtebaus bewährten Architekten unterziehen zu lassen. Ein Blick auf die Berufe der Unterzeichner – 370 Studenten, 112 Universitätsangehörige, 40 Frauen, acht Gewerbe- und Handeltreibende und ein Weingärtner – macht deutlich, dass Lange vor allem von dem akademischen Tübingen Unterstützung erfuhr.
Daraufhin meldete sich am 12. Februar das eher bürgerlich-städtische Lager in einer von 1430 Personen – 846 Gewerbetreibende, 253 Weingärtner, 241 Lehrer, Ärzte, Rechtsanwälte, 14 Studenten, 13 Frauen und 63 Sonstige – unterzeichneten Petition zu Wort. In ihr werden zunächst die Stadtverwaltung und die Gemeinderäte für ihr Engagement gelobt, sodann die schnelle, ja beschleunigte Realisierung des Bahnbaus gefordert. Lange wird mit keinem Wort erwähnt, seinem Anliegen auf Begutachtung der Pläne aber immerhin dahingehend Rechnung getragen, dass die Unterzeichner vorschlugen, Professor Eugen Gradmann, den zuständigen Landeskonservator, einzuschalten.
Dieser traf dann auch am 22. Februar zusammen mit Professor Paul Bonatz ein, seit 1908 Professor für Entwerfen und Städtebau an der Stuttgarter Technischen Hochschule, um eine Besichtigung der Alleen und der Baustellen vorzunehmen.
Dennoch der „Heimatschutzstreit“, wie die Auseinandersetzung bald genannt wurde, spaltete die Stadt für viele Monate in zwei geradezu feindliche Lager. Immer wieder flammte das „Alleengezänk“ auf. Ein letztes Mal, recht heftig, als es Ende 1910 um die Bebauung der Bahnhofstraße ging, Wortführer der Heimatschützer war diesmal vor allem Carl Fuchs, der dem Oberbürgermeister zwar schriftlich versicherte, dass er sich sowohl für seine Person wie für den Heimatbund lebhaft ein gutes Einvernehmen mit der Stadt wünsche, sich aber immer wieder in ehrlicher Sorge publizistisch gegen die Baupläne äußerte.
Umso erstaunlicher ist es, wie relativ schnell man auf sachlicher Basis dann doch wieder zusammen kam. Die Gemeindevertretung ließ sich, wie der Oberbürgermeister in seinem Verwaltungsbericht von 1927 aus der Rückschau schrieb durch das ihr gegenüber entwickelte feindliche Pathos nicht einschüchtern, baute die Eisenbahntrasse nach den alten Plänen, doch nun unter möglichster Rücksichtnahme auf die idealen Interessen des Heimatschutzes. Zur Lösung des Konflikts trug ganz wesentlich die Offenlegung der Absichten, Formen und Auswirkungen der Pläne bei, die Schaffung eines klaren Tatbestands und einer sicheren Umgrenzung des Unternehmens sowie die Zusicherung auf tunlichste Schonung all des Bestehenden und Erhaltungswürdigen.
So konnte beispielsweise Gemeinderat Heinrich Schweickhardt in einem am 10. Januar 1911 in der „Tübinger Chronik“ publizierten Artikel berichten, der Gemeinderat habe einmütig beschlossen – dass beim Bau der Bahnhofstraße die Entfernung der Bäume nicht in Frage komme. Genüsslich betont er: Herr Professor Dr. Fuchs hat also offene Türen eingerannt. Natürlich musste Fuchs antworten. Er tat dies am 15. Januar mit einem Schlussstrich, der allerdings auf eine leichte Drohgebärde nicht verzichten konnte. So heißt es darin, darum schließen wir nun unsererseits ohne Groll diesen neuen Alleenstreit, aber auch: wir werden uns nicht abhalten lassen, bei künftigen Fragen wieder zu tun, was wir als Bewohner Tübingens und Vorkämpfer der deutschen Heimatschutzbewegung für unsere Pflicht halten.
Letzte Ressentiments wurden schließlich beim II. Internationalen Heimatschutzkongreß ausgeräumt, der unter Beteiligung zahlreicher Abgeordneter aus aller Herren Länder 1912 in Stuttgart stattfand. Auf Veranlassung von Fuchs und Lange stattete eine große Mehrheit von Kongressteilnehmern mit den führenden Häuptern auch Tübingen einen Besuch ab. Den Empfang der Gäste auf dem Rathaus nutzte Oberbürgermeister Haußer zu einem Resümee, in dem er mehrfach betonte, dass Heimatschutz und Tübinger Gemeindevertretung natürliche Bundesgenossen seien. Seine unter großem Beifall aufgenommene Rede schloss er mit der Hoffnung: wenn auch im einen oder anderen Fall über Tun oder Lassen unsere Ansichten auseinander gehen, wollen wir uns eben doch immer wieder zurecht und zusammen finden eben in der gemeinschaftlichen Liebe zu unseren engeren und weiteren Heimat.
Es ist heute müßig, nach den Siegern im Heimatschutzstreit zu fragen. Sicher ist, dass er bei der Gründung des Schwäbischen Heimatbundes vor bald hundert Jahren eine Rolle gespielt hat. Und wichtig ist, dass er ganz maßgeblich zum Erhalt der Tübinger Alleen beigetragen hat. Wer weiß, ob es ohne diese Auseinandersetzung die prachtvolle Platanenallee heute noch gäbe.
Anmerkung:
Der Beitrag stützt sich auf die zitierten Ausgaben der „Tübinger Blätter“ und namentlich genannten Zeitungen sowie auf die beim Stadtarchiv Tübingen dazu unter der Signatur A 150/2365 und A 150/2887 verwahrten Akten und Pläne.
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