Osburg Verlag, Hamburg 2024. 472 Seiten, 67 Abb., Hardcover 30 €. ISBN 978-3-95510-358-3

Unverkennbar hat hier die Neugier dem Journalisten die Feder geführt. Als historischen Roman mag man dieses Buch nicht bezeichnen. Eher als Feature, in dem geschichtliche Details mit privaten, ja intimen familiären Befindlichkeiten verknüpft werden. Entstanden ist so eine Melange, die Gestern und Heute komprimiert. Aus einem Konvolut alter Briefe, das der Familie beim Ausmisten der Garage in die Hände gefallen ist, erwächst ein gewaltiges Projekt. Es führt den Autor in Archive und Bibliotheken, nach Bremerhaven und schließlich wochenlang in die USA. 23 Briefe bilden das Fundament des Buchs, verfasst von dem Brüderpaar Herzog aus Stuttgart. Der erste Brief, geschrieben am 16. Juli 1848 und abgeschickt aus New York City nach Stuttgart, stammt von dem Schriftsetzer Carl Herzog, dem älteren der beiden. Er war ein Jahr vorher in Stuttgart eher zufällig in die Umtriebe des »Brodaufstands« und ins Visier der Strafverfolgungsbehörden geraten und hatte daraufhin sein Heil als Auswanderer gesucht. Sein Bruder Friedrich sollte ihm später folgen.
Nun ist es nicht die erste Geschichte schwäbischer Exilanten, die Auswanderungs-Wellen mit ihren Zyklen im 19. und 20. Jahrhundert (nach den Napoleonischen Kriegen, nach der Revolution 1848/49, nach dem Ersten Weltkrieg, in den 1920er-Inflationsjahren) sind gut dokumentiert. Auch weit frühere Reisende haben uns berichtet. So etwa eine fast ominös zu nennende Frau Lotter aus Herrenberg, die Mitte des 18. Jh. von ihrer – allerdings nur vorübergehenden – Auswanderung nach Amerika abenteuerlich Zeugnis im Buch ablegt. Und noch gar nicht lang her ist es, dass die ARD einen Schwarzwälder Metzger zum Helden eines Spielfilms erkoren hat, der nach dem Ende des 1. WK seine Würste in die neue Welt einführte und dessen Nachkommen den Amis quasi den ersten »Burger« aufgetischt haben. Stories über Stories also zum Thema Auswanderung. Darüber hinaus ist Ahnenforschung ein boomendes Hobby. Auch ist Udo Zindels Dreh nicht unbedingt neu: Immer wieder hat die Neugier Menschen angetrieben, historische Originalschauplätze mit der Gegenwart abzugleichen. Er reist nicht per Segelschiff, was die Authentizität auf die Spitze getrieben hätte, sondern wohl mit einer ganz normalen Airline. Jenseits des Atlantiks führt er seine Spurensuche per Mietwagen, Railway und auch im Linienflugzeug fort. Dennoch versetzt er, was die christliche (Segel-)schifffahrt des 19. Jahrhunderts angeht, sein Lesepublikum ins Staunen, und allein schon die Schilderung von Carls Überfahrt auf dem Segler »Anna«, die Zustände auf seinem Zwischendeck ist lesenswert. Man meint fast, die würdelose Enge, die üblen Gerüche, das Ächzen und Stöhnen der Billigreisenden, die dicht an dicht eingepfercht sind, zu vernehmen und zu empfinden. Glücklich angekommen, schlagen sich Carl, später auch sein Bruder im »heiß ersehnten Amerika« nicht besonders erfolgreich durch. Aus Carl wird Charles. Aus dem Schriftsetzer wird abwechselnd ein Soldat und Goldwäscher und am Ende ein Deserteur. In der Nacht zum 4. Mai 1862 entfernt er sich von seiner Artillerie-Einheit, die mit leichten Feldgeschützen ausgerüstet in den Sezessionskrieg zieht, und verschwindet samt Ausrüstung ein-für allemal in der Wüste. Und damit von der Bildfläche. Bruder Friedrich, der sich den Staaten in den Gärtner »Fred« verwandelt hatte, ist bereits vier Jahre zuvor am Gelbfieber gestorben. Der Brief seines »Landlords«, ausgefertigt am 10. Oktober 1858 in New Orleans, gehört zu den Garagenfunden. Dem Buch vorangestellt ist eine Seekarte, quasi als Bewegungsmelder beider Brüder zwischen 1847 und 1862, aus der hervorgeht, dass Carl der weitaus beweglichere von beiden gewesen ist.
Immer wieder erstaunlich, wie viel Honig der Autor aus wenigen authentischen Briefzeilen saugen kann. Über eine Schiffskatastrophe, die Carl auf einem Truppentransporter im Atlantik knapp überlebt und mit folgenden Worten nach Hause berichtet: »In fünf Tagen und Nächten mussten wir anhaltend Wasser schöpfen und pumpen, keine Minute sicher, dass einen eine Welle über Bord nimmt«, formt Zindel eine mehrseitige atemberaubende Schilderung der Ereignisse, die mit dem Untergang des Schaufelraddampfers enden. Die Zutaten dazu entnimmt er amerikanischen Archiven und Zeitungen, die damals ausführlich über das Unglück mit vielen Ertrunkenen berichteten.
Fazit: Udo Zindel dokumentiert zwei ruhelose Leben diesseits und jenseits des Großen Teichs. Er setzt uns keine »Vom Tellerwäscher zum Millionär«-Stories vor, sondern die Biografie eines Brüderpaars, das mal gemeinsam, meist getrennt, sein Heil sucht. Heiß ersehntes Amerika ist, auch wenn die beiden kurzen Leben ohne Nachkommen schlussendlich verlöschen, mehr als »nur« die Story zweier Auswanderer. Reizvoll ist die Verknüpfung von alltagskulturellen, historischen, geografischen, politischen, militärischen, seuchenhygienischen und landeskundlichen Informationen. Die imposante Historiografie überzeugt einerseits durch Präzision, setzt andererseits angesichts der Informationsdichte ein Höchstmaß an Leseinteresse voraus. Zahlreiche Abbildungen und ein voluminöser Anhang mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis lassen den Aufwand und die Akribie erahnen, die in dieses Buch eingegangen sind. Zindel haucht dem Gilb verblasster Handschriften neues Leben ein und gibt zwei längst vergessen Geglaubten aus dem Schwabenland ihre Namen zurück. Weil sein Projekt vermutlich nicht nur viel Zeit, sondern auch einiges Geld gekostet hat, wird dem Autor ein Stipendium des Förderkreises Deutscher Schriftsteller wohl mehr als recht gewesen sein. Dass Carl mal als Charles, mal als Karl, Friedrich mal als Fred, mal als Fritz im Text auftauchen, irritiert lediglich marginal. Und wenn der Autor das Verb »laufen«, anstatt »gehen« bevorzugt, könnte das ein Indiz dafür sein, dass er, wie die beiden Protagonisten, eine Sozialisierung in Südwestdeutschland hinter sich hat.
Reinhold Fülle
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