Verlag Junge Gemeinde, Stuttgart 2023. 192 Seiten, zahlr. Abb. Paperback 29,95 €. ISBN 978-3-948882-37-2
Das Gedenk- und Feierjahr »1700 Jahre in Deutschland« hat auf vielen Ebenen Aktivitäten und Publikationen angestoßen, um Aufmerksamkeit für gegenwärtiges jüdisches Leben und seine Geschichte zu wecken und das Wissen darüber zu vertiefen. Auch das Evangelische Gemeindeblatt für Württemberg beteiligte sich ein Jahr lang an diesen Initiativen und veröffentlichte Woche für Woche Artikel zu jüdischen Gemeinden in Baden- Württemberg, die alle in der Schoa ausgelöscht wurden. Ergänzt um zwei Geleitworte – von Barbara Traub, der Vorstandssprecherin der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW), und Alice Brauner, deren Eltern im DP-Camp in Heidenheim heirateten – sowie einem knappen historischen Überblick haben die beiden Herausgeber diese Artikel nun zu einem ansprechenden, durch viele Fotos und weiterführende Adressen bereicherten Band zusammengefügt.
Die Autorinnen und Autoren der Beiträge nutzen unterschiedliche Zugänge, chronologisch, biografisch, architekturhistorisch oder eher lexikalisch. Besonders lebendig sind ihre Schilderungen, wenn sie die Geschichte der jeweiligen Gemeinde aus der Perspektive derjenigen erzählen, die sich heute der Vermittlung dieser Geschichte widmen, sei es als Stadtführer, Archivare oder Mitarbeiterinnen und Akteure erinnerungskultureller Initiativen. Dabei ist das auch in Württemberg späte Entstehen einer Erinnerungskultur unübersehbar. Und die Leerstellen werden sichtbar, die trotz der beachtlich vielen kleinen Jüdischen Museen und Abteilungen zur jüdischen Geschichte in Stadtmuseen (Freudental, Jebenhausen, Laupheim, Creglingen, Braunsbach, Michelfeld, Bad Mergentheim, Nordstetten, Oberdorf, Baisingen, Buttenhausen, Schwäbisch Hall), trotz Stolpersteinen und Gedenktafeln noch immer bestehen.
Nur in der Stuttgarter Synagoge führte ein Mitglied der IRGW, nur in Stuttgart hat sich unmittelbar nach dem Ende des NS-Regimes wieder dauerhaft eine jüdische Gemeinde gründen und schon 1952 ihre in der Pogromnacht zerstörte Synagoge wieder aufbauen können. Doch erst die Zuwanderung von Jüdinnen und Juden aus den GUS-Staaten – heute machen sie mit 80 Prozent die Mehrheit der Gemeinde aus – sicherte auch dieser Gemeinde ihren Bestand. Heute ist sie das Zentrum einer sogenannten Einheitsgemeinde, die alle drei religiösen Strömungen unter einem Dach vereint. Im württembergischen Teil des Bundeslandes zählt sie mit Ulm, Heilbronn, Esslingen und Reutlingen mittlerweile vier Filialgemeinden. Im badischen Landesteil sind es zehn jüdische Gemeinden. Doch da die historische Landesteilung selbst im jüdischen Bereich noch durchschlägt, fokussiert sich der Band – leider – nur auf den württembergischen Landesteil.
Verglichen mit der Zeit vor dem Holocaust sind das bescheidene Gemeindezahlen, lebten doch vor 1933 in 223 badischen Orten Jüdinnen und Juden, und die in dem Band abgedruckte Karte von 1932 weist mehr als 60 jüdische Gemeinden in Württemberg auf. Insgesamt werden in der hier vorgestellten Publikation 31 württembergische Orte mit jüdischem Erbe vorgestellt. Zu ihnen gehören so kleine wie das schon im 15. Jahrhundert existente Plaumloch auf der Ostalb, das infolge der nachemanzipatorischen Landflucht schon vor der NS-Zeit zu bestehen aufhörte, oder Heidenheim, wo es nie eine selbstständige jüdische Gemeinde, aber nach Kriegsende vorübergehend eine an die 3000 Mitglieder starke Gemeinschaft von heimatlos gemachten jüdischen Überlebenden gab, sog. Displaced Persons. Ein Umstand, der dazu führte, dass der spätere erste Ministerpräsident Israels, David Ben Gurion, dort 1946 in einem Vortrag für das neue Heimatland der Juden warb. Vorgestellt werden daneben die jüdische Gemeinde Laupheim, die im 19. Jahrhundert mit mehr als 800 Personen eine Zeit lang die mitgliederstärkste jüdische Gemeinde im damaligen Königreich Württemberg stellte, ebenso die großen Gemeinden von Stuttgart, Ulm und Heilbronn. Denn wenn Süddeutschland zwar das klassische Gebiet der Landjuden bildete, so gab es dort eben doch auch urbane Zentren jüdischen Lebens.
Verständlicherweise können die journalistischen Skizzen nicht immer mit historischer Tiefe aufwarten, aber sie wecken doch Neugier und Interesse. Denn der Band vermittelt einen anschaulichen Einblick in die vergangene Vielfalt jüdischen Lebens, gibt einen Überblick über das grausame Ende der jeweiligen Gemeinde und erlaubt einen guten Eindruck von der Gegenwart jüdischen Lebens in Württemberg ebenso wie von den vielen Bemühungen und Initiativen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das jüdische Erbe des Landes zu pflegen.
Benigna Schönhagen
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