Frank Ackermann: Die Villa Gemmingen und das Gustav-Siegle-Anwesen auf der Karlshöhe.

Titelblatt

Belser Verlag Stuttgart 2018. 192 Seiten mit 80 teilweise farbigen Abbildungen. Gebunden € 24,99. ISBN: 978-3763028153.

Gustav Siegle (1840–1905), Mitbegründer der BASF, war der erste Großunternehmer Württembergs. Mit einem immensen Vermögen ausgestattet, besaß er mit 26 Jahren fast die gesamte Stuttgarter Karlshöhe, auf der er sein Familienanwesen anlegen ließ. In seinem Buch erzählt Frank Ackermann nicht nur die Historie dreier großer und reich ausgestatteter Villen auf einem exponierten Hügel am Südrand der Stadt, sondern auch die aufschlussreiche persönliche Geschichte Siegles und der Familie.

Die Zeit zwischen den 1860er- und den 1920er-Jahren war die Epoche der großen, meist bürgerlichen Villen. Überall im Deutschen Reich entstanden außergewöhnliche Bauten und Anwesen, die mehr waren als Wohnhäuser einer durch Industrie und Handel, durch die politischen und ökonomischen Verhältnisse zu viel Geld und Einfluss gelangten gesellschaftlichen Schicht, die es 80–100 Jahre zuvor noch gar nicht gegeben hatte. Chemiefabrikanten, Reeder oder Bankiers waren die neuen Barone, die sich standesgemäßes Wohnen und Repräsentieren leisteten. Höchste Gesellschaft fand nun nicht mehr ausschließlich an Fürstenhöfen statt, sondern in den Sälen und Salons bürgerlicher Kreise. Zu den herausragenden Beispielen in Stuttgart zählen neben der Siegle (1871) etwa die Villen Moser (1875), Sieglin (-Weißenburg) (1890), Hauff (1904), Gemmingen (1911), Bosch (1911), Reitzenstein (1913) oder Levi (1921). Einige dieser Bauten wurden im oder nach dem Zweiten Weltkrieg zerstört, andere befinden sich – großenteils in gut überliefertem Zustand – in privater oder öffentlicher Nutzung.

Das vorliegende Buch suggeriert zunächst, Ackermann habe sich die Mühe einer umfangreichen Monografie gemacht. Doch Untertitel und Klappentext (Ein Buch voller spannender Einblicke in das Leben einer großbürgerlichen Familie) weisen darauf hin, dass eine andere Betrachtung erwartet werden darf als die reine Bau- und Ausstattungsgeschichte der drei überaus großen und kostbaren Villen auf der Karlshöhe. Den drei Bauten ist jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet: der ersten Villa Siegle, die 1871 eingeweiht wurde, dem Palais Ostertag-Siegle (1888 erbaut für Gustav Siegles Tochter Margarete und Schwiegersohn Carl Ostertag; verändert erhalten) sowie der Villa Gemmingen (1911 bezogen von Gustav Siegles Tochter Dora und Schwiegersohn Friedrich von Gemmingen-Hornberg; erhalten). Alle drei Kapitel haben gemein, dass der Familien- und Firmengeschichte der Bewohnerinnen und Bewohner weitaus mehr Platz gegeben wird als den Anwesen selbst. Auch die Ausstattung der Räume mit ihren Wandbespannungen, Gemälden und Skulpturen, sowie die Gartenanlagen werden ausführlich beschrieben und illustriert und zum Leben und Wirken der Personen in Beziehung gesetzt.

Baugeschichte im engeren Sinne findet jedoch nicht statt. Es gibt im gesamten Buch lediglich drei weitgehend unkommentierte Grundrisse und spärliche Detailzeichnungen; man erfährt nichts über wichtige Planänderungen, Um- und Anbauten; und besonders bedauerlich ist, dass auf den jetzigen Zustand der Gebäude nur am Rande eingegangen wird. Nur ganz beiläufig erfährt man, dass die Villa Siegle den Krieg als ausgebrannte Ruine überstand und 1955 vollständig abgebrochen wurde. Der an der Architekturgeschichte Stuttgarts Interessierte wird daher von dem Buch womöglich enttäuscht sein und in Christine Breigs Standardpublikation von 2000 über den Villen- und Landhausbau in Stuttgart mehr Informationen finden. Auch verzichtet Ackermann auf jegliche (!) Literatur- oder Quellenhinweise, was eine wissenschaftliche Weiterarbeit praktisch unmöglich macht.

Für jene Leserschaft jedoch, die tiefer eintauchen möchte in die großbürgerliche Gesellschaft des späteren 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, bietet der Autor jedoch einen reichen Schatz an Geschichte, Geschichten und Hintergrundinformationen. Auch die Architekten kommen nicht zu kurz, und selbst ein trauriges Kapitel der Familiengeschichte mit dem Tod der 14-jährigen Tochter Julia wird nicht ausgespart. Spannend zu lesen sind die komplexen Verknüpfungen zweier Generationen mit dem Aufstieg der BASF und dem weltweiten Handel mit Farben, wie auch mit dem Aufstieg Württembergs im Motorenbau und Verlagswesen. Ackermann präsentiert mit der Karlshöhe und ihren Anwesen ein architektur-, garten- und personenbezogenes Gesamtkunstwerk und nimmt uns mit auf eine Zeitreise in eine weit zurückliegende Zeit, deren Spuren noch heute im Stadtbild präsent sind. Für eine mögliche Neuauflage würde man sich einen kleinen Literaturapparat, ein paar weiterführende Hinweise, ein Orts- und Personenregister sowie eine Zeittafel wünschen.

Bernd Langner

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