Titelbild eines Buches

Wolfgang Proske (Hrsg.): Täter Helfer Trittbrettfahrer. Band 10: NS-Belastete aus der Region Stuttgart.

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Kugelberg Verlag Gerstetten 2020. 550 Seiten. Broschiert € 23,99. ISBN 978-3-945893-11-1

Regional untergliedert und Quellenbasiert spürt seit 2010 der Herausgeber Wolfgang Proske »Tätern, Helfern, Trittbrettfahrern« der Hitlerzeit nach. 127 Autorinnen und Autoren haben an diesen Biografien mitgewirkt. Sie sind nach Regionen gegliedert. Der nun vorliegende 10. Band listet 27 NS-Belastete aus der Region Stuttgart auf; darunter übrigens als einzige Frau die elsässische Unternehmerin Els Voelter. Er ist (vorläufiger?) Abschluss einer zehnteiligen Buchreihe.

Wolfgang Proske befördert Menschen aus der zweiten und dritten Reihe ans Licht, die in ihrer Masse einen erheblichen Anteil an der Akzeptanz des Unrechtsregimes bei der Mehrheit der Deutschen hatten, wie er selbst schreibt. Die Buchreihe führt das Bemühen weiter, das Unverständliche verständlich zu machen. Wer waren die Vollstrecker des Holocaust? (Daniel Goldhagen). Was waren sie vor 1933? Was taten sie von 1933 bis 1945? Wie sah ihr Platz in der Bundesrepublik Deutschland aus?

Die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland hatte in den ersten Nachkriegsjahren, als die meisten Belasteten noch lebten, keinen hohen Stellenwert. Wer über gute Netzwerke verfügte, überstand die »Entnazifizierung« glimpflich. Auch in den damaligen Heimatbüchern, die oft selbst von vorbelasteten Lehrern verfasst wurden, kommt die NS-Zeit allenfalls peripher vor.

Das hat sich geändert. Generationen von jungen Historikern haben sich in den 1980er-Jahren daran gemacht, den NS-Staat an seinen lokalen Wurzeln zu fassen. In Stuttgart erfuhr 1982 Karlheinz Fuchs große Aufmerksamkeit mit dem zeitgeschichtlichen Projekt »Stuttgart im Dritten Reich«, das eine ganze Ausstellungsserie umfasste. Silvester Lechner dokumentierte 1988 die Geschichte des Ulmer Konzentrationslagers Oberer Kuhberg. Und in den 1990er-Jahren widmete sich das Haus der Geschichte den NS-Gegnern im württembergischen Schutzhaftlager Ulm 1933–1935 und dem Widerstand an der Schweizer (grünen) Grenze. Diesen lokalen Projekten lässt sich die Arbeit von Wolfgang Proske zuordnen. Auch wenn die geschilderten Taten weit über die Region hinausreichen.

»Täter, Helfer und Trittbrettfahrer« beim Namen zu nennen, ist, das zeigt auch das vorliegende Buch, ein eklektisches Unterfangen. Der Polizeibeamte Erich Stockhorst hatte 1967 auf 461 Seiten 5.000 Kurzbiografien unter dem Titel »Wer war was im 3. Reich?« vorgelegt. Es ist inzwischen mehrfach neu aufgelegt und von Kritikern, auch wegen des politischen Verlagsumfelds, unterschiedlich bewertet worden.

Lediglich zwei NS-Belastete in Proskes Buch für die Region Stuttgart tauchen bei Stockhorst auf. Zum einen der Auschwitz-Zahnarzt Willy Frank aus Regensburg und zum Zweiten der jovial wirkende I.G.-Farben-Chemiker Carl Wurster aus Stuttgart, der nach 1945 freigesprochen worden ist, weil er angeblich nichts von dem Verwendungszweck des Zyklon B-Gases gewusst hatte. Im Fall des Zahnarztes, der in Plochingen gestorben ist, muss man sich durch die Details seiner Gerichtsverhandlung 1964 quälen. Bei der Terminologie können sich einem die Haare sträuben. »Gaskammerdienst« oder »Dienst an der Rampe« wurde offenbar in Dienstplänen mit buchhalterischer Gründlichkeit erfasst, die dann für Beteiligte nach 1945 zur Beweislast wurden. Im Fall von Willy Frank ging es darum zu beweisen, ob er als Zahnarzt, wie andere Mediziner auch, Menschen an der »Rampe« mit einer einzigen Handbewegung wie Ausschussware aussortiert hat. Das wurde ihm schließlich nach vielen Verhandlungstagen durch eine Zeugenaussage nachgewiesen. Auch wenn man ihm persönlich keinen unmenschlichen Umgang mit den Häftlingen vorwarf, ist Willy Frank vom Frankfurter Schwurgericht wegen Beihilfe zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Seine Bestallung als Zahnarzt hatte er verloren, als er 1970 freikam.

Selbst wenn Methodik, Objektivität und Wissenschaftlichkeit von Stockhorst und Proske nicht ernsthaft miteinander verglichen werden können, ist der gemeinsame Ansatz, Menschen aus der Zeit des »Dritten Reichs« aus ihrer Anonymität herauszunehmen und sie als Einzelpersonen darzustellen, erkennbar. Das vorliegende Buch liest sich bar jeglichen Genusses und sein Titel könnte auch lauten: »Täter, Helfer, Opportunisten«. Um einen solchen Opportunisten kennenzulernen, schlagen wir Seite 194 auf, wo die Lebensgeschichte eines gewissen Gottlieb Hering geschildert wird. Geboren 1887 in Warmbronn, gestorben im Oktober 1945 in Stetten/Remstal. Vor Hitlers Machtergreifung Kriminalpolizist in Göppingen. Dort als »Nazi-Fresser« bekannt, weil er einmal einem SA-Führer ins Gesicht gesagt habe, lieber lasse er sich eine Kugel ins Hirn schießen als dass er Nazi werde.

Exakt denselben Menschen sehen wir ab 1933 als Mitglied der NSDAP. 1940 als Büroleiter der Aktion »T4«, die sich der Ermordung von Behinderten und »unwertem Leben« verschrieben hatte. Wir sehen ihn von 1942 bis 1944 als Kommandanten verschiedener Konzentrationslager, deren verbrecherischen Zustände detailliert beschrieben werden. Und wir sehen ihn an seinem Lebensende wieder als Stuttgarter Polizisten, nachdem er sich von seinem letzten Einsatzort, dem KZ Risiera di San Sabba in Norditalien, am 6. Oktober 1944 zurück ins Polizeipräsidium Stuttgart gemeldet hatte. Am 30. Juni des folgenden Jahres wurde er als mutmaßlicher NS-Täter vom Dienst suspendiert. Zur Entlassung aus dem Staatsdienst kam es nicht mehr, da er am 9. Oktober 1945 verstarb.

Herings Lebensstationen lesen sich ab 1. Januar 1940 als Abfolge von Horror und Verderben. Er trat, obwohl er kein SS-Mitglied war, in der Uniform eines Hauptsturmführers auf (entspricht dem Rang eines Hauptmanns). Ein noch offenes Spruchkammerverfahren gegen ihn wurde 1948 eingestellt, weil der Eindruck bestehe, dass sich der Betroffene nicht besonders für den NS eingesetzt hat. Somit stand einer Auszahlung der Pension an seine Witwe nichts mehr im Weg.

Ein zweites Beispiel, Paul Hausser: Er war quasi sein ganzes Leben lang Soldat. Mit zwölf Jahren Kadett, diente er danach in der königlich-preußischen Armee, eine Zeitlang bei der Kaiserlichen Marine, im Ersten Weltkrieg sowohl im Generalstab, als auch als Truppenoffizier. Nach 1918 war er Freicorps-Kämpfer, später bei der Reichswehr Berufsoffizier. Mit 51 Jahren in den Ruhestand versetzt, wurde er unter Hitler reaktiviert. Er stieg zu einem der ranghöchsten SS-Generäle auf und war Troupier durch und durch. 1944 in einer glücklosen Schlacht in der Normandie im Kessel von Falaise schwer verwundet, setzte sich der Generaloberst der Waffen-SS nach dem Krieg für die Rehabilitierung »seiner Männer« ein. »Soldaten wie andere auch!« und engagierte sich in der HIAG (Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit). Möglicherweise hat er damals bei der KZ-Besichtigung in Mauthausen nicht genau hingesehen oder hinsehen wollen. Dass er aber überhaupt keine Ahnung davon hatte, dass sich KZ-Bewacher und SS-Frontsoldaten innerhalb eines permeablen Systems befanden, ist unvorstellbar. Die 16. SS-Panzergrenadier-Division »Reichsführer SS« ist ein Beispiel dafür. Dieser Verband wurde im September 1943 aus bereits bestehenden SS-Formationen zusammengestellt, mehrfach neu gegliedert und sowohl in Ungarn als auch in Italien verwendet. Ein Teil des Führungskaders stammte aus der SS-Totenkopfdivision, die wiederum aus KZ-Bewachungspersonal bestand.

Hausser ist nach seiner Gefangennahme in ein Internierungslager für NS-Belastete eingewiesen und 1949 entlassen worden. Anklage gegen ihn wurde nicht erhoben. Seine Sozialisation und sein Werdegang unterscheiden ihn deutlich von anderen SS-Generälen wie etwa Max Simon. Und hätte er die Rücksichtslosigkeit eines Ferdinand Schörner an den Tag gelegt, wäre er wohl kaum von seinen Untergebenen »Papa Hausser« genannt worden. Zur Gesamtwürdigung eines Menschenlebens zählen auch seine Charaktereigenschaften. Warum wird ein Haudegen von seinen Untergebenen »Papa« genannt, warum wird einer von dreitausend Menschen zur letzten Ruhe geleitet? Alles Militaristen, alles Unverbesserliche? Vielleicht lohnte es sich im Fall Hausser, mehr als im Buch geschehen, die Person in all ihren Facetten zu sehen. Nicht um Taten zu relativieren, sondern um den Menschen in seinen vielfältigen Handlungssituationen zu begreifen. Bei manchen der 27 Porträts in dem vorliegenden Buch ist dies gelungen, bei manchen scheint dies erst gar nicht notwendig. Im Fall Hausser wäre es möglicherweise einen Versuch wert gewesen. Einer, der nie etwas anderes sein wollte als Soldat, ist möglicherweise einfach der Verlockung erlegen, wieder Soldat sein zu können, als ihn Hitler aus dem Ruhestand zurückholte. Die Frage, warum Haussers Grab heute auf dem Waldfriedhof München, Alter Teil, zu finden ist, wo er doch hochbetagt in Ludwigsburg gestorben und laut Karsten Wilke dort auf dem Neuen Friedhof beerdigt worden ist, bleibt im Buch übrigens unbeantwortet.

Fazit. Wem nützt das Projekt »Täter, Helfer, Trittbrettfahrer«, das nun mit seinem 10. Band zu einem (vorläufigen) Abschluss gekommen ist«? Es taugt nicht zum Schüren von Rachegefühlen, zumal die beschriebenen Personen nicht mehr am Leben sind. Es taugt, bei aller Abscheu manchen Porträtierten gegenüber, auch nicht zur Selbstbestätigung, nach dem Motto: »Ich hätte es damals anders gemacht.« Die Menschen sind seit 1945 weder besser noch schlechter geworden. Und die meisten sind nach wie vor nicht so, wie sie scheinen. Das Buch bestätigt die Vermutung, dass fast jedem Menschen der Hang zum Verdrängen, zur Lebenslüge, zum Vergessen innewohnt und es taugt aus der Sicht des Rezensenten dazu, zu erkennen, wozu Menschen unter entsprechenden Rahmenbedingungen fähig sind. Das Buchprojekt möge dazu beitragen, dass wir den Wert unserer gegenwärtigen liberalen Gesellschaftsordnung sehr hoch taxieren. Und dass wir jeden Versuch, demokratische Rahmenbedingungen durch totalitäre zu ersetzen, schon im Ansatz der Implementierung bekämpfen. Denn es sind, um es mit Talleyrand abgewandelt zu formulieren, die Umstände und das Datum, die im Menschen das freisetzen, was in ihm steckt: Täter, Helfer, oder Trittbrettfahrer.

Reinhold Fülle

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