Titelbild des Buches

Thomas Schmidt und Kristina Mateescu (Hrsg.): Von Hölderlin bis Jünger. Zur politischen Topographie der Literatur im deutschen Südwesten

(Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs, Band 51) W. Kohlhammer Verlag Stuttgart 2020. 449 Seiten mit 75 Abbildungen. Paperback € 6,50. ISBN 978-3-945414-61-3

Literatur und Politik – ein Spannungsfeld, das neugierig macht. Ist Literatur als Verlautbarung im öffentlichen Raum nicht immer politisch – auch wenn sie vorgibt, nur dem sprachlichen Kunstwerk verpflichtet zu sein? Kann andererseits Literatur, die sich bewusst in den Dienst einer Ideologie stellt und politische Zwecke verfolgt, überhaupt nach ästhetischen Kriterien beurteilt werden? Thomas Schmidt, der Leiter der Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstätten in Baden-Württemberg – Europas reichster und lebendigster historischer Literaturlandschaft – hat sich mit 38 Autorinnen und Autoren zusammen in vorliegendem Band zum Ziel gesetzt, konkrete Kontaktzonen zwischen Literatur und Politik freizulegen und zu zeigen, wie eng und vielfältig die Sphären der literarischen und der politischen Kultur miteinander verknüpft sind. Schmidt geht in seinen einleitenden Bemerkungen dem dubiosen Verhältnis von Literatur und Politik nach. Schlaglichtartig und aufs Wesentliche konzentriert skizziert Schmidt die literarischen Epochen vom Sturm und Drang bis zur Moderne in Bezug auf ihr Eingebundensein in die politische Geschichte von annähernd dreihundert Jahren. Kristina Mateescu, Doktorandin an der Universität Heidelberg, hat den ansprechenden Band in Form gebracht, bebildert und lektoriert.

In 38 Einzelbeiträgen greifen die Autoren konkrete Beispiele der spannungsreichen Beziehung zwischen Politik und Literatur aus drei Jahrhunderten auf. Sie handeln von Schubart auf dem Hohenasperg, Schiller in Marbach, Uhland in Tübingen, Freiligrath in Stuttgart, Hochhuth in Brombach, Jünger in Wilflingen, aber auch von weniger bekannten Literaten wie Moscherosch in Willstätt, Nabokov im Südschwarzwald oder Céline in Sigmaringen. Dabei knüpfen die knapp gehaltenen Aufsätze an das bewährte Konzept der Spuren an, einer Heftreihe, die das Deutsche Literaturarchiv seit Jahrzehnten vier Mal im Jahr herausgibt. Jeder Beitrag geht von einer konkreten Fragestellung und einem literarischen Ort aus.

Zu Recht weist Schmidt darauf hin, dass die getroffene Auswahl nur subjektiv sein konnte und ohne weiteres auch viele weitere Beispiele nach diesem Muster hätten aufgegriffen werden können. Und doch weckt dieser Ansatz auch Erwartungen. So weist Muhterem Aras in ihrem Geleitwort darauf hin, dass dieses Buch auch als kurzweilige kleine Literaturgeschichte des deutschen Südwestens betrachtet werden könne. Schmidt spricht etwas vorsichtiger davon, dass die ausgewählten Themen im Hinblick auf literarische Epochen, politische und geschichtliche Ereignisse sowie geographische Regionen hinlänglich repräsentativ seien.

Weshalb wird aber die Anziehungskraft badischer Schwarzwaldorte auf russische Literaten gleich in drei Aufsätzen behandelt? Und waren die wenigen Monate über das Winterhalbjahr 1944/45, als sich der französische Antisemit und Literat Louis-Ferdinand Céline in Sigmaringen aufhielt, wohin die Reste der Vichy-Regierung deportiert worden waren, prägend für die Literaturlandschaft Baden-Württemberg oder nicht eher eine Randerscheinung? Andererseits könnte man bei den Achtundvierzigern z.B. Ludwig Pfau vermissen, der mit seinem Karikaturenblatt Eulenspiegel die Revolutionsereignisse in Württemberg auf originelle Weise beleuchtet und beeinflusst hat, und zu den Gründervätern der Volkspartei gehört, aus der sich schließlich die FDP entwickelt hat. Auch die Auseinandersetzung von Hermann Hesse mit seinen Freunden Ludwig Finkh und Wilhelm Schussen angesichts derer positiver Haltung zum Nationalsozialismus hätte wohl in diesen Rahmen gepasst, aber solches Fehlen dem Sammelband vorzuwerfen, wäre abwegig. Denn gerade die Mischung von scheinbar marginalen und repräsentativen Konstellationen und Konfliktzonen zwischen Literatur und Politik macht die Lebendigkeit dieses äußerst gelungenen Projekts aus. So wird der Blick des Lesers in überraschender Vielseitigkeit und Vielschichtigkeit auf das Literaturland Baden-Württemberg gerichtet und eine Fülle von Anregungen gegeben, sich weiter mit der Materie zu befassen.

Alle Beiträge sind getreu des Spuren-Konzepts flüssig geschrieben und unterhaltsam zu lesen. Sie richten sich nicht nur an die germanistische Fachwelt, sondern auch an interessierte Laien. Von Hölderlin bis Jünger ist eine wirkliche Bereicherung der landeskundlichen Literatur Baden-Württembergs.

Ulrich Maier

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