Titelbild eines Buches

Marcel vom Lehn: Herrenberg im Nationalsozialismus. Stadt und Gesellschaft (1933–1945).

Titelbild eines Buches

(Herrenberger his­torische Schriften, Band 11). Verlag Regionalkultur Ubstadt-Weiher 2017. 304 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. Fest gebunden € 25,–. ISBN 978-3-95505-056-6

Die Zeit der NS-Herrschaft von 1933 bis 1945 gilt heute als einer der am intensivsten erforschten Abschnitte der deutschen Geschichte. Dazu beigetragen haben wesentlich auch regionale und lokale Studien. Zwar hat es lange gedauert, doch in den 1980er-Jahren hat sich schließlich eine Generation junger Historikerinnen und Historiker daran gemacht, die lokalen Wurzeln des NS-Staates zu erforschen. Zu den ersten Werken in Württemberg zählt Bernd Burkhardts 1980 erschienenes Buch über Mühla­cker »Eine Stadt wird braun«, in dem er die Machtübernahme der Natio­nalsozialisten in der Provinz rekon­struierte. Danach folgten zunächst zögerlich, dann immer häufiger wei­tere lokale Überblicke zur NS-Zeit vor allem in den 1990er-Jahren. Nun also endlich auch, zwar reichlich spät, aber immerhin »besser spät als nie« eine Arbeit über Herrenberg.

Zwei Jahre lang hat der Berliner Historiker Marcel vom Lehn im Auftrag der Stadt die einschlägi­gen Archive durchforscht und mit Zeitzeugen gesprochen. Entstan­den ist daraus ein Buch, in dem die Geschichte Herrenbergs und seiner heutigen Stadtteile, wissenschaftlich aufgearbeitet, allgemein verständ­lich, ja gut und spannend lesbar dar­geboten wird. Gelungen ist ihm ein Buch, das nicht nur Fakten liefert über den Aufstieg, die Etablierung, die Herrschaft und das Ende des nationalsozialistischen Regimes in der Stadt und den heute dazu gehö­renden Dörfern, sondern auch – wie der Oberbürgermeister im Vorwort schreibt – »nachdenklich stimmt und betroffen macht«.

Deutlich macht der Autor bei­spielsweise in seinem Einleitungs­kapitel über den Aufstieg der Nati­onalsozialisten in Herrenberg, dass die Stadt keineswegs das »wehr­lose Objekt einer Nazifizierung von oben oder außen oder einer kleinen Gruppe Radikaler war«, sondern die Demokratie von einem Großteil der Bürgerinnen und Bürger schon vor 1933 »aufgegeben« worden war. Deutlich wird zudem, dass auch in Herrenberg »Andersdenkende ver­folgt und denunziert, kranke und behinderte Bewohner gegen ihren Willen sterilisiert und ausländische Zwangsarbeiter ausgebeutet« wur­den. Erschreckend, wenn nicht neu, ist das Fazit, dass sich »aber bis in die Kriegszeit hinein« Terror und Verfol­gung »fast nur gegen ausgegrenzte Minderheiten« richteten und die »Mehrheitsgesellschaft auch in Her­renberg dem NS-System mit mehr oder weniger großen Ausnahmen grundsätzlich zustimmte«.

Die entsprechenden Fakten auf­zudecken, war nicht ganz einfach, hatten die Nazis doch die Akten der örtlichen NSDAP und die der Stadtverwaltung kurz vor Kriegs­ende verbrannt. Dabei war man so radikal und gründlich vorgegangen, dass auch das städtische Archivma­terial zum 19. Jahrhundert weitge­hend mit zerstört wurde. Doch über anderswo erhaltene Parallelüber­lieferung bringt Marcel vom Lehn manch bislang Unbekanntes ans Tageslicht. Ein gutes Beispiel sind die ab 1934 durchgeführten Zwangsste­rilisationen: aus den Akten der Uni­versitäts-Frauenklinik Tübingen, des Gesundheitsamtes Böblingen und der Gesundheitsabteilung des würt­tembergischen Innenministeriums in Stuttgart konnte der Autor das Geschehen fundiert und überzeu­gend rekonstruieren. Manche Ergän­zung lieferten auch die Archive der in den 1970er-Jahren nach Herrenberg eingegliederten Dörfer.

Ja, der Einbezug der Ortsarchive bzw. der Blick über die Kernstadt hinaus auf die heutigen Stadtteile ermöglicht dem Autor auch Ähn­lichkeiten und Unterschiede der Entwicklung aufzuzeigen. Wieder­holt belegt er, dass es auch in der NS-Diktatur Spielräume gegeben hat und manches innerhalb der heu­tigen Stadtteile ganz unterschiedlich gehandhabt und umgesetzt wurde.

Das Buch schließt nicht mit dem Ende der NS-Herrschaft, der Befrei­ung 1945 und der Besetzung Herren­bergs durch die Franzosen. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit den Fol­gen des »Dritten Reiches«, zeichnet den weiteren Werdegang der eins­tigen lokalen NS-Größen nach und fragt nach dem Umgang der Einwoh­ner mit der NS-Vergangenheit bis in die Mitte der 1950er-Jahre.

Marcel vom Lehn gelingt eine umfassende Darstellung der Geschichte der Stadt Herrenberg (und ihrer Teilorte) in der NS-Zeit. Er beschönigt nicht, benennt nicht nur Opfer, sondern auch Täter, Mitläufer und Trittbrettfahrer, zeigt Verbrechen und den nationalsozialistischen All­tag auf, beschreibt das Verhalten der Herrenberger Gesellschaft und die Entwicklung der Stadtverwaltung, Parteien, Wirtschaft, Kirchen oder Vereine, er verweist auf die Hand­lungsspielräume der Akteure, kurz: er bietet einen überaus empfehlens­werten Überblick, der hoffentlich weitere Forschungen anregt, viel­leicht auch zur Frage des Umgangs mit der NS-Vergangenheit nach 1955 bis heute.

Wilfried Setzler

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