Titelbild eines Buches

Magdalena Guttenberger und Manuel Werner: »Die Kinder von Auschwitz singen so laut!«

Das erschütterte Leben der Sintiza Martha Guttenberger aus Ummenwinkel

BoD – Books on Demand, Norderstedt 2020. 412 Seiten mit zahlreichen Itinerarien, Karten, Photographien und Gemälden. Paperback 28,– €. ISBN 978-3-7504-7043-9; als E-Book 9,99 €. ISBN: 978-3-7504-9164-9

Titelbild eines Buches

»Man verlangt von uns Taten, Beweise, Werke und alles, was wir vorweisen können, ist verwandeltes Weinen«, sagte Emil Cioran. Im besten Falle – wie es sich von der Biographie der Sintiza Martha Guttenberger, geb. Reinhardt, (1921– 2009) sagen ließe, die, multiperspektivisch und polyphon, weit mehr ist als dies, nicht nur der Verflechtung fremdverfügter »Familienschicksale« wegen. Hier kommen neben den Verfolgern die Ravensburger Sinti aus dem Ummenwinkel selbst zu Wort, doch werden ihre Erinnerungen stets geprüft und in den sozialen, historischen, politischen, familiären Zusammenhang eingeordnet. Der Ummenwinkel, in dem 1937 das kommunale »Zwangslager für Zigeuner« in primitivster Barackenbauweise errichtet wurde, ist in seiner Entwicklung bis heute in den Blick genommen; die Kontinuitäten rassistischen Denkens über Brüche der deutschen Geschichte hinweg werden aufgezeigt: Mentalitäten als »Gefängnisse von langer Dauer«, deren Mauern aufzubrechen nicht geringen Mut erfordert; Schuldige sind benannt auf allen Ebenen, wobei überzeugend dargetan ist, wie die Sinti (und Roma) im »Dritten Reich« unter dem Druck von unten durch »Bürgerinitiativen« und Forderungen der Stadtbevölkerung wie dem Druck von oben durch die Regelungen und Richtungsvorgaben der Machthaber wie zwischen Mahlsteinen zerrieben wurden; die guten Gegenkräfte sind, zumindest diejenigen jüngster Zeit, gebührend gewürdigt. Entstanden ist eine Montage aus den Erzählungen Martha Guttenbergers, Erinnerungen und Zeitzeugenberichten, Dokumenten, in hervorragender Kenntnis genutzter Literatur, erläuternden Textpassagen: eine Montage, die mehr für sich in Anspruch nehmen kann, als ein »populärwissenschaftliches Buch« zu sein, zu dem es die Verfasser in Selbstbescheidung erklären.

Den beiden Autoren ist ein beispielhaftes Werk partizipativer Geschichtsschreibung gelungen. Magdalena Guttenberger, eine aus dem slowakischen Košice (Kaschau) stammende Romni, hat über Jahrzehnte auf Zetteln Gespräche mit ihrer durch den Nationalsozialismus an Leib und Seele dauerhaft geschädigten Schwiegermutter aufgezeichnet und wurde dadurch selbst versetzt in »eine Welt, die wir nicht kennen«: die Welt der Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Ravensbrück, Schlieben und Altenburg. Die Martha unverheilte Wunden geschlagen hat, schwärend, schmerzend, lebenslang, vor allem wenn sie, die im Auschwitzer Waisenblock Kinder zu betreuen hatte, diese bei ihrem qualvollen Ende wieder vor Augen sah, selbst hilflos, wurden sie ermordet durch Gewalttat, unmenschliche Lebensbedingungen, Hunger und Krankheit, Noma nicht zuletzt, bei selbstredend unterlassener Hilfeleistung, durch medizinische Versuche gar; wenn sie also, gefangen für immer im traumatisch Erlebten, die Kinder hörte, die wiederkehrten in Alpträumen, sie nie mehr verließen, des Nachts an ihrem Bett saßen, unter dem Tisch vermeintlich: „Die Kinder von Auschwitz singen so laut!“.

So erst, von Martha gemahnt, wird Magdalena auf die Spur der Geschichte der eigenen, fast völlig ausgelöschten Familie in ihrer Heimatstadt gebracht. All dies hat sie zu einer engagierten Bürgerrechtlerin gemacht, die Akzente setzt in der Hoffnung, dass aus Geschichte sich lernen lässt. Die hegt auch Manuel Werner, der in einer Hechinger Familie aufwuchs, die ihn von Kindesbeinen an lehrte, dass sich der moralische Wert einer Gesellschaft am Umgang mit ihren Minderheiten bemisst; der sich seit Jahrzehnten durch geschichtliche Arbeiten auszeichnet; der sich unablässig für die Bedrängten auf der Schattenseite des Daseins einsetzt.

Weit spannt sich der Bogen des Buches über mehr als ein Jahrhundert deutscher Geschichte: vom Kaiserreich, das Sinti und Roma verfassungswidrig unter Sonderrecht stellte, über die Weimarer Republik, in der 1922 bereits Baden und Württemberg mustergültige Wege in ihrer Sonderverfassung gingen, und das »Dritte Reich« mit dem industriell betriebenen Völkermord auf der technischen Höhe der Zeit bis in die (sich mählich wandelnde) Bundesrepublik mit ihrer (spät entwickelten) Gedenkkultur. Über ein Jahrhundert ausgezogen sind die Lebenslinien der Familie des Geigenbauers, Musikers und Händlers Karl Reinhardt und seiner Frau Maria Martha mit ihren zahlreichen Kindern, Martha darunter; »immer auf der Reis’« mit Pferd und Wagen im süddeutschen Raum, das Wandergewerbe zu üben, das freilich unter zunehmenden Schikanen zu leiden hatte, in Dallau von 1939 bis 1943 »festgesetzt« – bis zur Verschleppung nach Auschwitz- Birkenau, zur Ermordung der Eltern, vieler Geschwister, auch der Militärdienst leistenden Brüder, des eigenen dreijährigen Sohnes »Josefle«, zum Einsatz in weiteren Lagern, zum Todesmarsch … Ein unerträgliches Leiden, geschildert bis zur Befreiung, bei der sie, ratlos und allein, zwei Ravensburger Sintizi auf der Suche nach ihren Verwandten begegnete, welche die Hölle auf Erden gleichfalls überstanden hatten: Zu Fuß brachen Amalie und Maria Guttenberger mit Martha auf in den Ummenwinkel. Dort lernte sie Julius Guttenberger, den Bruder ihrer Schicksalsgenossinnen, der Auschwitz gleichfalls überlebt hatte, kennen und lieben.

Beider Leben war vom Erlittenen zutiefst erschüttert, von der Verfolgungsgeschichte der Familie ihres Schwiegervaters auch, die ins Ravensburger Zigeunerlager zwangsweise eingewiesen worden war, deren Söhne und Töchter unter ständiger Bedrohung als Arbeitssklaven ausgenutzt oder gar »in Konzentrationslagern ihrer Verwertung zugeführt«, wie Landräte als Verbrecher qua Amt formulierten, ermordet samt Kindern aus Gründen der Rasse allein. Wie aber wuchsen Kinder und Kindeskinder der so Gezeichneten auf? Wäre es der Überlegung wert, ob nicht den unter transgenerationalen Traumatisierungen Leidenden Hilfe zuteil werden müsste, bei nachweisbaren Folgeschäden des Völkermordes in der zweiten und dritten Generation Entschädigungszahlungen angebracht wären? Ein solches Verfahren liefe freilich der Praxis der sogenannten »Wiedergutmachung« zuwider, die »wider die Gutmachung« nach 1945 oft zu einer zweiten Verfolgung ausartete, nicht anders, als die angestrebte Entnazifizierung nicht nur des Beamtenapparates zur Renazifizierung geriet, was die beiden Autoren nicht ohne Bitternis für die Kontinuitäten in Personal und Gesinnung auch auf Ortsebene feststellen. Glänzend funktionierte erneut das Zusammenspiel von zentraler Direktive und lokaler Dynamik, taten vor Ort Verantwortliche freudig überzeugt, was zu tun vorgegeben war: die Entschädigung von Sinti und Roma als Opfer des Nationalsozialismus bestmöglich zu be-, wenn nicht gar zu verhindern.

Zu den Stärken des Buches gehört neben den ipsissima verba der Ravensburger Sinti (und Roma), ihrem Denken, Fühlen und Handeln, ihrem Erleben, ihrem Fragen nach Gott in der Katastrophe, neben der bewegenden Zeichnung des Persönlichkeitsbildes Martha Guttenbergers (und anderer Protagonisten) auch, dass es Opfer, Täter, Profiteure und Zuschauer klar benennt; dass es individuelle Schuld feststellt; dass es die Bandbreite an Handlungsmöglichkeiten für die Beteiligten aufzeigt – aber auch ihre Grenzen, wenn die Nazis ihre Zuträger und »Greifer« unter den Verfolgten fanden; dass es die juristische, auch die moralische Aufarbeitung der Verbrechen untersucht; dass es die Hoffnungszeichen eines Wandels zum Besseren bemerkt, die Entwicklung der Gedenkarbeit vor Ort als Propädeutikum, nicht zuletzt aber erzieherische Angebote (ohne polizeilichen Zwang): Die »Spielstube« im Ummenwinkel, das beste Beispiel für den lohnenden gesamtgesellschaftlichen Gewinn bei vertretbarer Investition in die Kleinen, erweist den (im eigenen Interesse gebührenfreien) Kindergarten als Wiege der Integration.

Beachtliche Forschungsergebnisse sind zudem erzielt – wie im Fall des vollständig reproduzierten Schreibens vom 7. Juni 1937 des Leiters der rassenhygienischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt Robert Ritter, der mit seinen »Zigeuner-Rassegutachten« den Weg einer tödlichen Wissenschaft wies. Im Bestreben, »artfremde Bestandteile auszuschließen bzw. bewußt zum Verschwinden zu bringen«, riet er vom Bau des Lagers in Ummenwinkel ab, das sich als Fehlinvestition erweisen werde. Manuel Werner erkennt in ihm darob als »Vordenker« einer von ihm geforderten »Sonderbehandlung« den Vater des von langer Hand geplanten Völkermordes, da diese nur ein »Tarncode für systematische Ermordung und Ausmerzung« sei. Für 1937 bereits scheint dies diskutabel. Zumindest wünschte Ritter die Sterilisation der Ausgesonderten, mithin einen Völkermord mit Zeitverzug.

Diskussionswürdig erscheint das inzwischen gängige Verständnis des Menschheitsverbrechens der deutschen Nationalsozialisten als »Zivilisationsbruch« und nicht als Aufgipfelung der »abendländischen Kultur« eingeschriebenen Möglichkeit der vollständigen Ausrottung des Anderen. Dem Begriff wohnt verharmlosend Beruhigendes inne, als ob nach Anlegung eines »Zivilisationsbruchbandes« alles behoben, gut und wieder heil wäre. Dass die Autoren davon gar nicht überzeugt sein können, wird auch in ihrer Auseinandersetzung mit einem auch vom katholischen Kirchenchor und -gemeinderat der Berger Pfarrei St. Petrus und Paulus gebauten, vom Priester kläglich verteidigten Fasnetswagen beim dortigen Karrenumzug anno 2005 deutlich, der mit der Parole »Zack Zack Zigeunerpack« und einer entsprechenden Darstellung des »fahrenden Volkes« als verwahrlosten Gesindels bewies, wie »der Schoß […] fruchtbar noch, aus dem das kroch« ist, was Martha Guttenbergers Leben erschütterte. Dass sie beim Anblick des unbedachten, da tief im Denken der Darsteller verwurzelten »fastnachtlichen Spaßes in alter Tradition, der vom zuständigen Oberstaatsanwalt nicht als strafbewehrte Volksverhetzung gesehen wurde, »wie erschlagen« war, wütend, zugleich in Angst und Schrecken versetzt, lässt sich denken. Ex nihilo nihil fit. / Von nichts kommt nichts. Was war, ist … eine erwiesene Möglichkeit. Das weiß der Geschichtsschreiber seit alters. Das ängstigte Martha Guttenberger. Die Mahnung ist ihr Vermächtnis. Aufklärung ein schwieriges Geschäft. Die vorgelegte Biographie ein exemplum, steht Martha Guttenbergers »Schicksal« doch stellvertretend für das so vieler – und als geschichtlich erwiesene Möglichkeit menschlichen Handelns. Ein Dreivierteljahrhundert nach der Deportation seiner Großeltern sagte ihr jüngster Enkel: »Jede Träne erzählt mehr als ein Wort.« Keine darf vergebens vergossen sein. Auch nicht, ist das Weinen verwandelt in das hier besprochene Buch.

Michael J. H. Zimmermann

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