Herausgegeben von Helmuth Mojem und Stefan Knödler. Wallstein Verlag Göttingen 2022. 2 Bände, 914 und 1180 Seiten mit einigen Abbildungen. Leinen mit Schutzumschlag im Schuber 99,– €. ISBN 978-3-8353-5146-2
Zu seiner Zeit war Ludwig Uhland eine der bekanntesten Persönlichkeiten in Deutschland. Sein Grabstein auf dem Tübinger Stadtfriedhof trägt lediglich seinen Namen, da – so dachte man damals – jeder seine Lebensdaten kennt. Ende des 19. Jahrhunderts gab es kaum eine deutschsprachige Stadt ohne eine Uhlandstraße. Als Lyriker hatte er seinen Platz neben Goethe und Schiller, seine von Silcher vertonten Gedichte gehörten zum festen Repertoire aller Liederkränze und Gesangvereine. Seine Lieder und Balladen waren »kulturelles Allgemeingut«. Geachtet und geschätzt wurde er im Bürgertum auch als aufrechter Demokrat und liberaler Abgeordneter in der Paulskirche. Wiederholt ehrten ihn Tübinger Studenten mit Fackelzügen, die allerdings eher dem gegen die königliche Regierung opponierenden Politiker galten als dem Hochschullehrer. Seine akademische Karriere war ja nur kurz, von 1830 bis 1832 gerade mal zwei Jahre, denn vom König vor die Wahl gestellt – entweder Landtagsabgeordneter oder Staatsdiener –, entschied er sich fürs erstere und wurde als Professor entlassen.
Inzwischen ist Ludwig Uhlands Ruhm weitgehend verblasst, seine einstige Breitenwirkung völlig verebbt. Es ist, als wäre er »unserer Zeit abhanden gekommen«. Selbst das Ludwig-Uhland-Institut in Tübingen kennen die meisten nur noch als LUI. Lediglich bei Jubiläen wird ab und zu noch seiner gedacht, werden ihm Ausstellungen und Kataloge gewidmet. Allerdings gibt es inzwischen gewisse Bollwerke, die sich gegen das Vergessen stemmen: das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, das den umfangreichen Uhlandnachlass beherbergt, und einige an der Tübinger Universität angesiedelte Germanisten und Rhetoriker. Ein Ergebnis fruchtbarer Zusammenarbeit dieser Institutionen war eine 2012 konzipierte große Ausstellung mit einem umfangreichen Katalog zum Thema Ludwig Uhland Tübinger linksradikaler Nationaldichter. Aus dem Kreis der damaligen Autoren haben sich nun Helmuth Mojem, Leiter des Cotta-Archivs im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, und Stefan Knödler, Deutsches Seminar der Universität Tübingen, Abteilung Neuere deutsche Literaturwissenschaften, zu einem äußerst bemerkenswerten Unternehmen zusammengefunden und sich gewissermaßen der Wiederentdeckung Uhlands als Hochschullehrer zugewandt.
Es mag erstaunen, dass sie sich mit dem »Gelehrten« und nicht mit dem Dichter oder Politiker beschäftigten und sich ausgerechnet jenen Teil seines Wirkens ausgesucht haben, der am wenigsten bekannt ist und beachtet wurde. Doch gibt es gerade in diesem Forschungsfeld noch reichlich Neues und Unbekanntes zu entdecken, wie die beiden Herausgeber in der hier vorliegenden, zwei Bände umfassenden Publikation anschaulich und eindrucksvoll beweisen.
Fünf Semester, bis zu seinem vom König erzwungenen Abschied 1832, lehrte Ludwig Uhland als Professor für deutsche Sprache an der Tübinger Universität. Neben seinen Vorlesungen zur Geschichte der altdeutschen Poesie im Mittelalter, zum Lied der Nibelungen oder zu »Sagen-Geschichten der germanischen und romanischen Völker« bot er in vier der fünf Semester Studenten aller Fakultäten eine Wochenstunde mit »Uebungen im schriftlichen und mündlichen Vortrage« an. Zu diesem »Stylisticum« konnten Studenten im Voraus eigene literarische Arbeiten freier Wahl – Gedichte, Essays, Übersetzungen oder sonstige Abhandlungen – einreichen. Auf der Seminarsitzung wurden die Texte vom Autor oder, wenn dieser selbst anonym bleiben wollte, von Uhland bzw. einem Kommilitonen vorgetragen und anschließend von Uhland korrigiert und kritisch rezensiert. Er wollte »die Kunst des Schreibens lehren, nie beckmesserisch, nie magistral, sondern wie ein Handwerksmann im Kreis der Gesellen«, schrieb Walter Jens. Seine ausformulierten Gedanken zu den Texten hatte Uhland stets schriftlich fixiert.
Im ersten Band ihres Werkes haben Mojem und Knödler nun das »Stylisticum« – die Beiträge der Studenten sowie Uhlands sämtliche Besprechungen – in chronologischer Reihenfolge transkribiert, ediert und ausführlich kommentiert. Uhlands Vorlesungsmanuskripte, denn mitunter hat er seine »Übungsstunde« mit allgemeinen Überlegungen zur Rhetorik eingeleitet, sind alle in seinem in Marbach befindlichen Nachlass handschriftlich überliefert. Ihnen liegt dort ein großer Teil der studentischen Manuskripte bei, doch nicht alle. Die fehlenden haben die beiden Herausgeber weitgehend aus Beständen anderer Archive ergänzt, mitunter aus zeitgenössischen Druckschriften rekonstruiert. Entstanden ist so eine glänzende Rekonstruktion des tatsächlichen Vorlesungsverlaufs, die eine großartige Grundlage zu weiterer Forschung und einer neuerlichen Annäherung an Ludwig Uhland bietet.
Noch umfangreicher als der erste Band mit 914 Seiten ist der zweite (1180 Seiten). Er befasst sich mit den rund fünfzig aktiv mit Texten am »Stylisticum« teilnehmenden Studenten. Darunter findet man nicht nur Personen, die sich später als Literaten einen Namen machten wie Hermann Kurz, Gustav Pfitzer oder Reinhold Köstlin, sondern auch den Missionar und Indologen Hermann Gundert, Hermann Hesses Großvater, oder Moses Wassermann, Rabbiner und geadelter israelitischer Kirchenrat, oder Gustav Werner, Gründer des Reutlinger Bruderhauses.
Alphabetisch geordnet von Rudolf Binder bis Eduard Zeller stellen Knödler und Mojem zunächst in einer biografischen Skizze Leben und Werk des Teilnehmers vor, listen dann dessen literarische und fachliche Veröffentlichungen auf sowie die ihn betreffende Literatur. Abgerundet werden die jeweiligen Informationen mit Textzeugnissen, seien es eingereichte, aber im »Stylisticum« nicht besprochene Beiträge, Korrespondenz mit Uhland oder weitere Texte – Briefe, Erinnerungen, Tagebuchnotizen, Rezensionen, Dokumente –, die den Herausgebern geeignet erschienen, »die Kontur der betreffenden Person deutlicher zu zeichnen, durchaus auch hinsichtlich ihres weiteren Lebenswegs und ihrer späteren literarischen Aktivitäten«.
Mit der Edition der Texte Uhlands und seiner Schüler, den ausführlichen Fußnoten und kommentierenden Anmerkungen sowie dem Panorama der Biografien ist den beiden Herausgebern nicht nur ein »origineller und authentischer« Neuzugang zu Ludwig Uhland, sondern auch zur Literatur- und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts gelungen.
Wilfried Setzler
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Endlich mal wieder etwas von Uhland. Nn wäre es aber an der Zeit auch seine schriftstellerische Arbeit neu zu betrachten.