Titelbild eines Buches

Harald Stahl: »Die hohen Bäume und das Unterholz und das Tote«.

Waldnaturschutz im Nordschwarzwald, Waldbewusstsein und Naturerfahrung.

Titelbild eines Buches

Waxmann Verlag Münster 2019 (Freiburger Studien zur Kulturanthropologie, Band 3) 359 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. Fest gebunden 39,90. ISBN 978-3-8309-3981-8

Der gesellschaftliche Umgang mit Natur mutet paradox an und produziert in behänder Gleichzeitigkeit befremdlich widersprüchliche Landschaften: Hie die restlos optimierten und auf Effizienz getrimmten Produktionsräume der Agrarindustrie – dort als Gegenwelten geschützte und damit tabuierte Kulturlandschaften vormoderner Herkunft oder eben vermeintlich unberührte Wildnis. »Rewilding« lautet der Name für ein Konzept, durch Erhaltung und Gestaltung von Wildnis Artenschwund und Klimawandel zu bekämpfen. Wildnis als Objekt und Ziel menschlicher Weltgestaltung? Das erscheint etwas paradox, repräsentiert sie vordergründig doch gerade diejenige Wirklichkeit, die sich unberührt und unverfälscht behauptet hat gegenüber menschlichem Bemächtigungs- und Kultivierungswillen. »Dieser Gedanke, jeden Fleck Erde von Menschenhand umgewühlt zu sehen, hat für die Phantasie jedes natürlichen Menschen etwas grauenhaft unheimliches«, empfand Wilhelm Heinrich Riehl 1854, um daraus nicht nur ein »Recht der Wildniß« abzuleiten (W. H. Riehl: Land und Leute, Stuttgart 1854, S. 35).

Gleichwie, Harald Stahl hat solche Paradoxien in der kulturellen Praxis des Schützens in seiner Freiburger Dissertationsschrift genauer inspiziert und sich dafür den Nordschwarzwald ausgeguckt. Hier hat Orkan »Lothar« 1999 in den Nutzwäldern (bis zu 70% mit Fichten bestückt) riesige Räume der Zerstörung hinterlassen, wo auf den Sukzessionsflächen nun das freie Spiel der Naturkräfte walten darf. Unweit entfernt liegt der Bannwald »Wilder See – Hornisgrinde«, wo seit über 100 Jahren von menschlichem Schutz behütet »Urwald« gedeihen soll. Umgeben sind diese Orte vom 10.000 Hektar großen Nationalpark Nordschwarzwald, der im Zuge seiner Ausweisung 2014 unter den Einwohnern und Einwohnerinnen als Spaltpilz wirkte.

Der Weg zurück zur Natur führt über die Kultur. Dies ist die tragende Überlegung, von der sich Harald Stahl bei seinen Studien über Waldbewusstsein und Naturerfahrung leiten ließ, mit denen er an geschichts- und kulturwissenschaftliche Waldforschungen anschließt. Was passiert in diesen Reservaten der Wildnis und eigendynamischer Naturentwicklung? Stahl bestimmt die dort betriebene »Kultur der Naturbelassung« (Hermann Lübbe) als »Kultur des ›Nichtstuns‹«. Nichtstun? Der Autor befleißigt sich sogleich, auf vielschichtige Art und Weise herauszuarbeiten, dass sich hinter vermeintlicher Passivität eine Vielzahl höchst absichtsvoller und sinnstiftender Aktivitäten verbirgt. Dazu zählt zuallererst der Akt der Ausweisung als Reservat, die Einhegung, die Wildnis von kultiviertem Land und damit vermeintliche Natur von Kultur trennt. Die Frage, von der sich Stahl deshalb leiten lässt: »Welche kulturellen Bedeutsamkeiten verdichten sich an diesen Gebieten, sind der Praxis ihrer Hervorbringung eingeschrieben, gehen ein in die Erfahrung?« (S. 17) Um dies herauszuarbeiten, sucht Stahl zunächst in fundamentierenden Kapiteln die theoretische Verständigung über ständig herausfordernde Natur-Kultur-Zuordnungen und schafft »Naturzugänge« durch die Rekonstruktion der Genese von Landschafts- und Waldbewusstsein. Sodann tritt er seine Gänge durch die Waldreservate an, um in Interviews, Beobachtungen und ethnografischen Streifzügen aufzuzeigen, wie hier die Verwandlung der einstigen Angstlandschaft Wildnis und dem Nutzraum Wald zur Sehnsuchtslandschaft »neuer Wildnis« vollzogen wird. Das Wachstum der Bäume und das Werden von Wildnis folgen einem anderen Tempo als Prozesse historischen und kulturellen Wandels. Insofern bleibt die vorgelegte Arbeit eine Momentaufnahme in den Prozessschutz, die freilich eine höchst nachhaltig wirksame Sehnsucht der Moderne und Spätmoderne aufzeigt, nämlich die Beziehungen zur Natur als einer auch außermenschlichen Wirklichkeit präsent zu halten. Um nichts vorwegzunehmen, aber in Aussicht zu stellen: Stahls Waldgänge durch den nördlichen Schwarzwald sind darüber hinaus ein höchst inspirierender und hilfreicher Beitrag, den allgemeinen gesellschaftlichen Umgang mit Natur zu reflektieren.

Friedemann Schmoll

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