Titelbild eines Buches

Hans Jürgen Böhmer: Beim nächsten Wald wird alles anders – das Ökosystem verstehen

Hirzel Verlag, Stuttgart 2022. 206 Seiten. Fester Einband 22 €. ISBN 978-3-7776-2922-3

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Der Buchtitel macht neugierig: Wald ist Wald – was soll da grundlegend anders werden? Und wer wird etwas anders machen als seither – der Borkenkäfer, der Klimawandel, die Forstleute? Nun, diese Fragen kann man auch nach dem Lesen des Buches nicht klar beantworten, aber eines lernt man: Wälder, egal ob bei uns oder in anderen Erdteilen und Klimazonen, sind hochkomplexe Ökosysteme, die sich – mit oder ohne Einflussnahme des Menschen – wandelnden Standortbedingungen besser anpassen, als man das gemeinhin annimmt.

Was wurde denn eigentlich aus dem Waldsterben? ist eine interessante Frage auf den ersten Buchseiten, und der Autor – von Beruf Ökologe und Erforscher von Wäldern weltweit – legt dar, dass sich die geradezu apokalyptischen Weissagungen selbst hochkarätiger Wissenschaftler in den 1980er-Jahren weitgehend in Luft aufgelöst haben. Kein Zweifel: Bäume sind abgestorben und dies teilweise auf großen Flächen, zum Beispiel im Bayerischen Wald, aber heute steht dort wieder – oder besser: nach wie vor – Wald; der saure Regen hat den Wäldern keineswegs, wie vorhergesagt, den Garaus gemacht. Dass die Schadstoffbelastung der Luft ein Problem war, ist unbestritten. Dies war vielleicht der Anlass für die zu beobachtenden Phänomene, der eigentliche Grund war aber, wie man heute zu wissen glaubt, zunehmende Trockenheit, beginnend mit dem extremen Trockenjahr 1976 und weitergehend mit dem nachfolgenden auch überdurchschnittlich trockenen Jahrzehnt. Man hat daraus gelernt: Der Bayerische Wald ist trotz allem wieder grün, das Ökosystem Wald passt sich selbst katastrophalen Ereignissen an. Und das gilt nicht nur bezüglich der Schadstoffe, sondern auch bei den Neophyten, sprich: Baum- und Straucharten, die vom Menschen meist unbeabsichtigt verschleppt werden und sich dann derart exzessiv verbreiten, dass sich das Waldbild total verändert.

Der Autor belegt diese Thesen mit zahlreichen Beispielen seiner Untersuchungen in allen Erdteilen, wobei er seine maßgeblichen Erkenntnisse auf Hawaii gewonnen hat. Um ein Gesamtbild der Situation der Wälder unseres Planeten zu bekommen, ist zweifelsohne der Blick in alle Erdteile notwendig, doch springt der Autor mehrfach hin und her, führt einmal Gefährdungen durch eingeschleppte Krankheiten, dann Veränderungen durch Neophyten an, und was anders nicht erklärbar ist, wird dem Klimawandel zugerechnet, wobei auch da zwischen natürlichen Prozessen und menschgemachten Problemen hin und her argumentiert wird. Neuere weltweite Forschungen, die nach seiner Meinung nicht systematisch und gründlich genug erfolgen, ergeben offensichtlich – wen wundert das – kein einheitliches Schadbild unserer Wälder.

Erwähnenswert sind einige allgemein gehaltene Sätze im Vorwort: Dem Autor ist nach drei Jahrzehnten Forschung aufgefallen, dass vieles, was heute erforscht und als neue Erkenntnis ausgegeben wird, von Vorgängern schon mal erforscht und veröffentlicht worden sei; die heutige Informationsgesellschaft erfinde das Rad lieber neu, als dass man in Bibliotheken nach entsprechenden Bauanleitungen schaue. Das Anliegen des Autors ist es, langfristige Perspektiven darzulegen und Überblick zu schaffen. Er ist dabei allerdings seiner eigenen Erkenntnis zum Opfer gefallen: Man hat das allermeiste doch schon mal irgendwo gelesen oder gehört.

Das Buch beinhaltet weltweite Analysen und Diagnosen, und die sind zweifelsohne gut recherchiert und lesenswert. Doch während jeder Arzt seiner Diagnose eine Behandlung und ein Rezept folgen lässt, endet die Diagnose in diesem Buch (S. 182) folgendermaßen: Schon seit 30 Jahren, eigentlich noch viel früher, wussten wir doch, um was es geht. Und noch immer passiert nicht genug, um die Entwicklung aufzuhalten oder gar umzukehren. Bei Weitem nicht. Wir leiden an einer gewaltigen Lücke zwischen Wissen und Handeln. Das Rezept beschränkt sich auf den Satz: Als Reaktion auf die Prognosen zum Klimawandel sind Änderungen des persönlichen Konsumverhaltens unerlässlich. Auf diese auch keineswegs neue Erkenntnis sollte doch eigentlich ein Kapitel folgen, in dem klipp und klar gesagt wird, was zu tun ist und welche Auswirkungen dies auf unsere Gewohnheiten, unseren Lebensstandard und unsere Gesellschaftssysteme haben wird. Aber das Buch endet mit der Diagnose – wie im übrigen auch andere Bücher, die sich mit Klimawandelfragen beschäftigen. Offenbar sind die Konsequenzen für unsere Lebensweise so schrecklich, dass uns nicht nur Politiker, sondern auch Wissenschaftler nicht zu sagen trauen, was zu tun ist, um den Planet Erde zu retten.

Reinhard Wolf

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