Fachwerkwand mit Bemalungen

Haaggasse 26 in Tübingen: Scheune, Werkstatt oder Wohnhaus?

Eine kultur- und architekturgeschichtliche Schatzkiste von 1495

2007 ging ein Stück Tübinger Häusergeschichte in das Eigentum des SHB über. 2005 war, unterstützt von der Stadt Tübingen, der “Verein Haaggasse 26b e.V.” gegründet worden. Er erwarb das spätmittelalterliche Gebäudes hinter dem Rathaus mit dem Ziel einer ehrenamtlichen, denkmalgerechten Sanierung. Über mehrere Jahre hinweg wurden von den Vereinsmitgliedern über 4000 Stunden geleistet. Als günstige Konstellation erwies sich dabei die enge Zusammenarbeit mit der Tübinger Regionalgruppe des Schwäbischen Heimatbundes, vor allem mit dem SHB-Ehrenmitglied Frieder Miller. So konnte mit den Geldern aus den Mitteln des Nachlasses von Peter Helge Fischer nicht nur die Sanierung gestemmt, sondern schließlich auch das Gebäude in den Besitz des SHB übernommen werden. Damit ist die langfristige, kulturelle Nutzung sichergestellt.

Seit 1972 ist der Club Voltaire Nutzer des Hauses, dessen Erdgeschoss als kleiner, aber feiner Veranstaltungsraum dient. Im Laufe der Jahrzehnte stellten sich durch mangelnden Bauunterhalt allerdings immer mehr Schäden ein, welche zu Beginn des neuen Jahrtausends zur Frage führten, ob das Gebäude überhaupt noch zu erhalten sei. Nach der Sanierung ist der Club Voltaire auch noch heute der Hauptnutzer. Aber auch die SHB-Regionalgruppe Tübingen nutzt das Gebäude für Veranstaltungen.

Das Gebäude steckt voller Rätsel

Südansicht von Hasengässle 5/1 im frühen 20. Jahrhundert mit freiliegendem (!) spätmittelalterlichem Fachwerk; ein für die normalerweise verputzten Tübinger Fachwerkhäuser äußerst seltenes Bild. Deutlich erkennbar ist die offenbar erst im 19. Jahrhundert angelegte Tenneneinfahrt. (Foto: Stadtarchiv Tübingen/Tilmann Marstaller)

Erbaut wurde es just im Jahr der Erhebung Württembergs zum Herzogtum als eingeschossiges Fachwerkhaus mit dreigeschossigem Satteldach. Ein bauhistorische Kurzuntersuchung im Jahr 1986 datierte die verwendeten Bauhölzer auf 1495. Wie in Tübingen zu dieser Zeit üblich, wurden beim Bau überwiegend Nadelhölzer verwendet, die mittels Neckarflößerei aus dem Schwarzwald importiert wurden. Zu Beginn der Maßnahmen waren noch viele Fragen offen: Wie ist das ursprüngliche Fachwerk konzipiert, wieviel ist substanziell erhalten? Und vor allem: Zu welchem Zweck wurde das Gebäude ursprünglich errichtet?

Aufgrund seiner zurückgesetzten Lage in einem Hinterhof der Haaggasse wurde es zunächst als ehemalige Scheune gedeutet und bildet laut dem Tübinger Werteplan von 2016 eine der letzten erhaltenen Scheunen der Tübinger Altstadt in typischer Hinterhoflage und zudem wohl als älteste dieser Art. Diese Interpretation scheint nicht abwegig, zumal das Gebäude ab 1845 auch ausdrücklich als einstockige Scheuer bezeichnet wurde. Von Wohnräumen ist im Erdgeschoss nichts zu sehen, das heute fast komplett von dem Veranstaltungssaal eingenommen wird. Wäre da nicht die historische Überlieferung, laut der das Gebäude bereits 1640 eine Behausung darstellte. Noch 1819 ist es im Primärkataster der Stadt als Wohngebäude gekennzeichnet, wobei die Lage des Hauses zwischen Ammer- und Haaggasse auffällig jener des 1526 errichteten Wohnhauses Hasengässle 2 entspricht. Wo aber befanden sich diese Wohnräume und von wann stammen sie?

Klarheit brachten 2005/2006 eine bauhistorische Erforschung sowie eine restauratorische Untersuchung. Schon 1986 war erkannt worden, dass das Dachwerk nicht dem typischen Bergeraum einer Scheune entsprach, sondern wie bei Wohnhäusern räumlich unterteilt war. Heute weiß man, dass das Fachwerk des eingeschossigen Traufgerüstes für die Erbauungszeit geradezu als “hochmodern” anzusehen. Das Fachwerk steht mitten drin in einer spannenden architekturgeschichtlichen Entwicklung! Dies hier darzustellen, würde zu weit führen. Sie können den Beitrag aus der Schwäbischen Heimat als pdf-Datei herunterladen.

Ursprüngliche Nutzung

Tatsächlich ergaben die Untersuchungen des Hauses im Erdgeschoss den Nachweis von Wänden in den inneren Querbünden und damit zumindest einer räumlichen Teilung in drei Querzonen. Markant ist deren unterschiedliche Breite. Wahrscheinlich existierte eine Stube im südwestlichen Eckbereich, an die sich eine Kammer anschloss. Gesichert ist eine Küche in der inneren Querzone. Dafür, dass das Gebäude von Anfang an über eine geschlossene Rauchführung verfügte, über die der Rauch von Herd und Ofen kontrolliert über die Dachhaut nach außen abgeführt werden konnte, spricht auch die verhältnismäßig geringe Verrußung der Dachhölzer.

Aus der Rekonstruktion der ursprünglichen Raumanordnung im Erdgeschoss geht hervor, dass das Gebäude ursprünglich sicher nicht von Süden und aufgrund der erhaltenen Fachwerkteile nachweislich auch nicht von Westen aus zugänglich war. Demnach ist der ursprüngliche Eingang an der Ostseite zu suchen. Hier befindet sich heute ein schmaler Abstand zu den Gebäuden Hasengässle 1 und 3, der keinesfalls als Hauptzugang zu Hasengässle 5/1 dienen konnte. Damit stellt sich die Frage, ob das Hasengässle nicht deutlich breiter angelegt war und erst nach Errichtung von Hasengässle 1-5 zu dem schmalen Durchstich zwischen Haaggasse und Ammergasse wurde, den es heute darstellt.

Im ersten Dachgeschoss des Hauses konnte ebenfalls nachgewiesen werden, dass in den inneren Querbünden von Anfang an Wände konzipiert waren. An der Südseite bestand die Möglichkeit einer Raumbeleuchtung über eine Fensteröffnung, die mit einem innen liegenden Schiebeladen verschlossen werden konnte.

Beeindruckende Malereien

Als bei der Sanierung jüngere Wandverkleidungen abgenommen wurden, kamen zur großen Überraschung an den Innenseiten der Giebelwände im ersten Dachgeschoss beeindruckende Malereireste zum Vorschein.

Farbenfrohe Gestaltung der Wand an der südlichen Giebel­ wand der südöstlichen Dachkammer. Zu dieser Fassung gehört die im oberen Gefach aufgemalte Jahreszahl mit den Handwerkermarken. In einer späteren Ausstattungsphase wurde die ältere Begleitstrichmalerei mit einer schlichten Graufassung des Fachwerks und gemalter Holzverbreiterung überdeckt. (Foto: Tilmann Marstaller)

Die von Julia Feldtkeller und Fabian Schorer freigelegten und restaurierten, teils polychromen Begleitstrich- und Rankenmalereien auf einem Gefach des Südgiebels zeigen das Repertoire der vielfach in Tübingen belegten farbenfreudigen Ausschmückungen der Häuser vor allem in der Zeit der späten Renaissance. Der Zufall wollte es, dass auf dem obersten Gefach der Südseite sogar das in großen Ziffern festgehaltene Entstehungsjahr 1582 der reichhaltigsten Farbausstattung erhalten geblieben ist. Spannend sind hier auch zwei identische Marken vor und nach der Jahreszahl, die formgleich in der Spätgotik als Steinmetzzeichen vorkommen. Hier sind sie aber eindeutig als Handwerkermarken zu deuten, wie sie in unmittelbar vergleichbarer Form beispielsweise auf den im Museum Humpisquartier in Ravensburg ausgestellten Zunftscheiben vorkommen. Vielleicht war hier im Dachwerk des Club Voltaire sogar derselbe Maler tätig, der 25 Jahre später (!) die Ausmalung des Tübinger Kornhauses vorgenommen hat. Jedenfalls findet sich hier wie dort dieselbe Handwerkermarke.

So hochwertig die Räume im Dach, deren Ausgestaltung sich nicht einmal hinter den eng verwandten Farbfassungen im südwestlichen Treppenturm des Tübinger Schlosses verstecken musste, auch waren, es handelte sich auch 1582 nur um einfache, unbeheizte, wenngleich in hohem Maße repräsentative Kammern! Offenkundig liebte man es im Tübingen der Spätrenaissancezeit, in fröhlicher Stimmung mit Blick auf kunterbunte Fachwerkwände aufzuwachen.

Das Gebäude ist also weit mehr als “nur” ein zeitgemäßes Kulturzentrum. Das 1495, also just im Jahr der Erhebung Württembergs zum Herzogtum erbaute Fachwerkgebäude diente von Beginn an als Wohnhaus, das zwar nur einstockig-eingeschossig konzipiert und auch von der Grundfläche her insgesamt recht klein bemessen war, zimmermannstechnisch aber den damals neuesten Schrei darstellte! In Kombination mit den hochwertigen Malereibefunden im Dachwerk ist es eine kleine kultur- und architekturgeschichtliche Schatzkiste, um deren Erhalt sich auch der Schwäbische Heimatbund schwer verdient gemacht hat.

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