Titelbild eines Buches

Günther Fetzer: Osiander, 425 Jahre Buchhandel in Deutschland

Molino Verlag Leonberg 2021. 300 Seiten. Gebunden 28 €. ISBN 978-3-94869604-7

Titelbild eines Buches

Ein schönes Buch liegt zum 425. Geburtstag der Buchhandlung Osiander vor. Schön, im Sinn von ästhetisch außen und innen, präsentiert sich der Band rostrot im Format von etwa B5 mit Prägedruck auf dem Rücken.
Osiander: Das ist lebende Geschichte! Erst im Mai 2021 wurde bekannt, dass sich mit Ravensbuch der oberschwäbische Zweig der Riethmüllers, das heißt vier Buchläden in der Bodenseeregion, mit der Tübinger Buchhandelskette zusammentut. Zwei Vettern (Christian Riethmüller und Martin Riethmüller) wollen Amazon gemeinsam die Stirn bieten und zugleich mit ihren Filialen die Innenstädte beleben. Was im Jahr 1596 in Tübingen begann, scheint demnach Zukunft zu haben.

Zum Osiander-Jubiläum erstattet ein Fachmann Bericht: Günther Fetzer war einst Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Literaturarchiv Marbach, danach mit Stationen bei Hanser, Heyne, Scherz, Droemer Knaur Kindler und Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck. Er also spürt den vergangenen 425 Jahren in drei Kapiteln nach. Im Epilog wird ausgeführt, wie diese Tübinger Buchhandlung ihre Selbstständigkeit bis heute bewahren konnte. Dazu finden sich im Anhang die Stammbäume bis zu den Riethmüllers, für deren Nachverfolgung ein Ariadnefaden hilfreich wäre.
Die dazu gehörende Karte mit Osiander- Standorten zeigt nicht nur eine beeindruckende Filialendichte in Baden-Württemberg, sondern auch einen gehäuften Eintrag in Bayern. In Rheinland-Pfalz sind es drei Einträge (Bad Kreuznach, Neustadt und Speyer). Und mit der fast schon extravagant anmutenden Adresse Skyline-Plaza hat Seniorchef Hermann-Arndt Riethmüller am 29. August 2013 eine Osiander-Filiale im damals neuen Shopping Center in Frankfurt am Main platziert. So hoch hinaus hat es ein Unternehmen geschafft, das 1596 in Tübingen seinen Anfang genommen hat. Durch einen Professor für Poetik und Geschichte nämlich, der in Straßburg eine ganze Druckerei aufkaufte und sie in die Lange Gasse Nummer 2 nach Tübingen translozierte. Erhard Cellius war sein Name.

Geschickt setzt der Autor dieses Buches das Leben besagten Professors in den damaligen politischen, gesellschaftlichen, kulturellen, städtischen und universitären Kontext. In der Manier von J. P. Hebel lässt er die wichtigen damaligen Ereignisse und Figuren am geistigen Auge der Lesenden vorbeiziehen: Descartes und Sir Francis Drake, Shakespeare und Johannes Kepler. In dieser Zeit des Aufbruchs war die Differenzierung des Buchdrucks, der gut 150 Jahre davor erfunden worden war, bereits deutlich fortgeschritten. Günther Fetzer unterscheidet Verleger mit eigenen Druckereien und solche, die trotz eigener Offizin noch andere Druckereien beschäftigten, und andere, die gar keine eigenen Maschinen besaßen, sondern ihre Verlagsprodukte in fremden Druckereien herstellen ließen. Erhard Cellius gehörte zur Kategorie der Druckereibesitzer.

Es ist eine Abfolge von Besitzerwechseln und Einheiraten, darunter auch prominente Namen wie Cotta, die schließlich zu Jacob Friedrich Heerbrandt als Verleger und Sortimenter und zu seiner Tochter Wilhelmine Caroline (1795–1850) führt. Die Namensgeber Osiander klinken sich 1813 in die Verlagsgeschichte ein. Ab wann genau allerdings die Buchhandlung ihren Namen führt, kann auch der Historiker nur annähernd wiedergeben: Er schreibt: Heerbrandts Tochter Wilhelmine Caroline […] heiratete 1813, also im Jahr nach dem Tod ihres Vaters, Christian Friedrich Osiander, den Namensgeber des bis heute als Osiandersche Buchhandlung firmierenden Unternehmens. Mehr als zweihundert Jahre nach ihrer Gründung erhielt die Verlagsbuchhandlung also den Namen, den sie heute noch führt. Der süddeutsche Familienname Osiander ist ihm eine eigene Betrachtung wert. Steht er doch für eine Reihe von Theologen und Universitätskanzlern in Württemberg.

Karl Wilhelm Koehler (1854–1921), Enkel von Christian Friedrich Osiander, war der Letzte in der Dynastie des Namensgebers. Er verkaufte das Unternehmen an zwei Seeoffiziere. Zitat: Zum ersten Mal in der inzwischen vielhundertjährigen Geschichte der Buchhandlung hatten die neuen Inhaber weder mit der Inhaberfamilie noch vor dem Kauf mit dem Unternehmen selbst zu tun. Diese beiden ehemaligen kaiserlichen Marineoffiziere Richard Jordan und Gustav Pezold waren Freunde und Kameraden. Als sie sich an der Universität Tübingen immatrikulierten, waren beide unter dreißig. Ihr Studium scheint lustlos und von kurzer Dauer gewesen zu sein. Jedenfalls hängten sie es schon nach einem Jahr an den Nagel und kauften im September 1920 gemeinsam das Osiandersche Unternehmen zum Preis von 205.722,18 Mark.

Die Biografie der beiden Offiziere, die man in den 1940er-Jahren im Rang von Kapitänleutnanten (vulgo: Kaleus) abgebildet sieht, eröffnet dem Firmenhistoriker die Möglichkeit, sich mit Osiander vor, im und nach dem Zweiten Weltkrieg zu befassen. Dabei schreibt er Klartext und beschweigt, wie das oft in Firmenchroniken gemacht wird, nichts. Sowohl Pezold als auch Jordan waren Mitglied in der NSDAP und lange vor 1933 im deutschnationalen Milieu unterwegs. Nach dem Ausscheiden von Pezold im Jahr 1930 führte Jordan den Verlag allein weiter.

Der Name Riethmüller taucht in den Annalen erst 1962 auf. Brigitte Jordan, Tochter von Richard und Eva Jordan, heiratete am 12. Dezember 1943 Konrad Dietrich Riethmüller und seither steht dieser Familienname für das Osiandersche Unternehmen, das mit der Zeit geht und sich auf Innovationen im digitalen Bereich einlässt. Die Entscheidung, etwa im E-Commerce-Bereich auf die Reader der Tolino-Allianz zu setzen, bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dem Lesegerät Kindle von Amazon Paroli zu bieten. Dieser unternehmerische Mut passt gut zu einem Führungspersonal, das sich nicht im Elfenbeinturm verschanzt, sondern als soziale Wesen agiert. Ein Beispiel – das allerdings im Buch nicht vorkommt – ist Christian Riethmüller. Er ist nicht nur als Triathlet unterwegs, sondern auch als Präsidiumsmitglied im Aufsichtsrat des VfB Stuttgart 1893 e.V.

Fazit: Die Chronik zum 425. Geburtstag des Osiander-Verlags ist weit mehr als eine Familiensaga. Es ist eine penibel dokumentierte Reise durch (deutsche) Verlags-, Verleger-, Sortimenter- und Literaturgeschichte. Das imposante Literatur- und Personenverzeichnis im Anhang lässt Lesende ahnen, wie viel Zeit und Fleiß Günther Fetzer in seine Recherche investiert hat. Er konnte sich dabei u.a. auf eine zum 375-jährigen Firmenjubiläum von Brigitte Riethmüller vorgelegte Unternehmensgeschichte stützen.

Reinhold Fülle

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