Gudrun Silberzahn-Jandt: … und da gab’s noch ein Tor, das geschlossen war.

Alltag und Entwicklung in der Anstalt Stetten 1945 bis 1975.

Titelblatt

Herausgegeben vom Vorstand der Diakonie Stetten e.V. Kernen-Statten Selbstverlag 2018. 304 S., über 100 oft farbige Abb. Das Buch ist kostenfrei erhältlich und kann über die Diakonie Stetten (information@diakonie-stetten.de) bestellt werden.

Kontinuitäten aus der Zeit des Nationalsozialismus weit über 1945 hinaus sind aus vielen gesellschaftlichen Bereichen und Milieus bekannt. Zu den lange beschwiegenen und verdrängten Kapiteln der Nachkriegszeit zählen auch die Verhältnisse in Heimen und Pflegeeinrichtungen für behinderte Menschen. Im Nationalsozialismus bedeuteten die in der Aktion T4 gipfelnden Vernichtungspraktiken der Euthanasie, bei denen mit der Klassifizierung unwerten Lebens Tausende Menschen ermordet wurden, eine an traumatisierender Unheimlichkeit kaum zu übertreffende Entgrenzung und ein historisches Ereignis, das sich nach wie vor jeglichem Verstehen entzieht. Diese Verbrechen konnten natürlich nur unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur vollzogen werden. Doch auch nach deren Ende wirkten autoritäre Strukturen fort und als persistent erwiesen sich Welt- und Menschenbilder, in denen Behinderte primär verwahrt und verwaltet wurden. Nachdem sich in den letzten Jahren öffentliche Diskussionen über Gewalt und Missbrauch in Heimen entzündet hatten, erachtete es auch die Diakonie Stetten als ihre Aufgabe, diese Kapitel ihrer Nachkriegsgeschichte eingehender zu untersuchen. Mit dem im Sommer 2018 vorgelegten Band der kundigen Kulturwissenschaftlerin Gudrun Silberzahn- Jandt liegen nunmehr die Ergebnisse eines mehrjährigen Forschungsprojektes vor.

Wie die Studie über die Verhältnisse in der Anstalt Stetten zeigt, sollten auch nach 1945 noch lange alltägliche Praktiken des Strafens, der körperlichen Disziplinierung und rigider Einschränkungen individueller Freiheit fortdauern. In mehrjähriger Projektarbeit durchforstete Gudrun Silberzahn-Jandt Archive der Diakonie und anderer Institutionen. Sie sichtete Patientenakten und führte Interviews mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen, deren Engagement in das Projekt einfloss. Die Ergebnisse, die zutage gefördert und in dem Buch gebündelt wurden, erschüttern und wühlen auf, so alltäglich präsent waren Gewalt und Möglichkeiten des Missbrauchs. Es fällt bei der Lektüre mitunter schwer, sich zu vergegenwärtigen, dass diese Vergangenheit nur wenige Jahrzehnte zurückliegt. Aus heutiger Sicht erscheint manches, das damals selbstverständlich war, unendlich weit entfernt, nicht selten bizarr. Die Behindertenhilfe lag darnieder und besaß kaum politisches und öffentliches Gewicht. Um den Fremdenverkehr zu fördern, sollte die Anstalt in Stetten hinter die Kulissen des öffentlichen Lebens verlagert und die Behinderten in abseitigen Kasernen verwahrt werden. Ihr Anblick störte offenkundig die erwünschten Wirtschaftswunder-Kulissen des öffentlichen Lebens. Die Möglichkeiten körperlicher Züchtigung und Gewalt waren rechtlich gegeben, die rigide Einengung individueller Entfaltungsmöglichkeiten entsprach den damaligen Normen.

Die Autorin macht deutlich, wie zäh und langsam sich im Zuge der gesellschaftlichen Liberalisierung in der Bundesrepublik auch Strukturen und Auffassungen der Heimarbeit wandelten. Sie hat ein Buch vorgelegt, das sich wissenschaftlich auf Niveau bewegt, gleichzeitig gut lesbar ist und nicht zuletzt durch die reichhaltige Bebilderung die Nachkriegsgeschichte der Diakonie in Stetten anschaulich vermittelt. Der Band liefert keinesfalls nur ein historisches Nachkriegsporträt der Anstalt Stetten: In der Strukturierung des Stoffes in drei Großkapiteln spiegelt sich die Dynamik bundesrepublikanischer Gesellschaftsgeschichte. Mit Wiederaufbau nach 1945 ist das erste Kapitel überschrieben, ging es doch nach der Beschlagnahmung der Anstalt 1940 zunächst vor allem darum, die Einrichtungen wieder in Besitz zu bekommen und die Gebäude zu renovieren. Was das Leben dort betrifft, so ist viel Abgründiges zu lesen. Es geht um heiminterne Skandale, um Versuche, die Anstalt auszulagern, den Umgang mit Zwangssterilisation und Euthanasie nach 1945, körperliche Züchtigung, aber auch um Feste und Feiern. Nicht erst 1968, sondern bereits in den 1950er- Jahren kündigten sich Brüche und allmähliche Veränderungen an, wie das Kapitel Kontinuität und Wandel dokumentiert. Es ist die Ära Ludwig Schlaichs (1899–1977), der die Heil- und Pflegeanstalten von 1930 bis Mitte der 1960er-Jahre leitete. Vom System Schlaich spricht die Autorin nicht von ungefähr, denn der seit 1930 amtierende Anstaltsleiter war nicht nur im alltäglichen Leben omnipräsent. Unter seiner Ägide wurde die Heimarbeit professionalisiert und der Grundstock zur modernen Heilerziehungspflege gelegt, was sich spätestens 1958 mit der Gründung der ersten Fachschule für Heilerziehungspflege manifestierte. Ab Ende der 1960er-Jahre etablierten sich nun deutlich moderne Vorstellungen der Behindertenarbeit und die Heime öffneten sich. Aufbrüche 1968– 1975, so heißt denn auch das letzte Großkapitel.

Vom Nationalsozialismus geprägte Vorstellungen etwa der Bildungsunfähigkeit hatten lange fortgewirkt. Doch langsam gehörten nun dominante Vorstellungen des Verwahrens mehr und mehr der Vergangenheit an; Therapie- und Entwicklungsmöglichkeiten rückten in den Vordergrund. Behinderungen wurden nicht mehr primär als Defizite verstanden. Auch wenn Begriffen wie Integration oder Inklusion etwas Mechanisches anhaften mag, so rücken sie doch Gleichheit, Teilhabe, Selbstbestimmung und Augenhöhe in den Vordergrund. Wie sich all diese Prozesse im Großen der Gesellschaft wie im Kosmos der Diakonie Stetten vollzog, zeichnet das Buch anschaulich und eindrücklich nach.

Friedemann Schmoll

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