Titelbild eines Buches

Gert Ueding: Herbarium, giftgrün.

Kröner Edition Klöpfer Stuttgart 2021. 333 Seiten. Hardcover € 24,–. ISBN 978-3-520-75301-4

Titelbild eines Buches

Detektivgeschichten und »Krimis« haben in Deutschland Hochkonjunktur. Besonders gerne verbinden sie sich heute mit bestimmten Orten. Solche »Regionalkrimis« können – wenn dies nicht zu hochtrabend wäre – als Ausdruck einer kulturwissenschaftlichen »Wende zum Raum« gedeutet werden. Für Sir Arthur Conan Doyle war noch ganz selbstverständlich London wichtigster Schauplatz der Ermittlungen, und für seine Detektive gab es in den Straßen der englischen Hauptstadt genügend zu tun, wenn sie die Türe der Bakerstreet 221 B hinter sich geschlossen hatten. Ein »Birmingham-Krimi« lag noch weit außerhalb der Vorstellungskraft.  Allenfalls auf Reisen ließen Schriftsteller und Schriftstellerinnen ihre Helden damals in der Provinz tätig werden. Heutzutage lauert indes für Krimi-Autoren das Verbrechen nicht länger nur in den Metropolen, sondern auch an so ungewöhnlichen Orten wie Rosenheim, Münster oder sogar Tübingen. Sind es angesichts der Komplexität der heutigen Welt Reste eines aufklärerischen Impetus im Nahbereich oder ist es schlicht das Verlangen der »Erlebnisgesellschaft« nach Spannung, das die Verpackung auch lokaler Stoffe in Krimiform verlangt?

Die Kunst des Verpackens gehört zur Rhetorik, in der der Autor Gert Ueding als Nachfolger von Walter Jens auf dem singulären Tübinger Lehrstuhl ein Meister seines Fachs ist. So finden sich in seinem »Herbarium« hinter der Krimi-Oberfläche noch andere Varietäten. Wichtigster Schauplatz ist die altehrwürdige Universität, die sich, nachdem der Präsident »das erste Mal alles vermasselt hatte«, nun ihrer Exzellenz rühmen kann. Das Buch fällt damit in die Sparte des vor allem in angelsächsischen Ländern beliebten Universitätsromans. Das darin gezeichnete Bild des heutigen, vom Bologna-Prozess geprägten (wohl eher deformierten) Wissenschaftsbetriebs – da ist der Verfasser als emeritierter Professor sicher ein Kenner der Materie – ist alles andere als günstig. Der Kampf um wissenschaftliche Reputation und damit zusammenhängend »Drittmittel« wird im Buch mit allen Tricks und auf den verschlungensten, nicht immer legalen, Wegen ausgefochten. Nicht viel besser weg kommen indes die Studierenden, wo nur wenige besonderes Interesse und Begabung zeigen.

Freunde eines Schlüsselromans warnt der Verfasser, dass Personen und Handlungen »frei erfunden« seien. Eine Liste der Pseudonyme wie für das im Vorgängerverlag Klöpfer & Meyer erschienene Werk von Manfred Zach über die »Villa Reitzenstein« wird es also wohl leider nicht geben.

Eine prominente Rolle spielen im Buch Tübingen und Umgebung. Sie sind Schauplätze des Geschehens und ihre Lokale (heutzutage meist italienische, wobei Speisekarten und Weine detailreich erläutert werden) Orte vertiefender Reflexion. Ein Zeichen der Zeit ist, dass die Akademiker das Verbrechen nicht nur in der »Einsamkeit und Freiheit« von Seminargebäuden, sondern ebenso in den stadtbekannten Parkhäusern (für Kundige: Brunnenstraße und »König«) ereilt.

Der Protagonist Max Kersting – aus Hannover stammend, lange aber schon in Süddeutschland lebend – ist kein Wissenschaftler, sondern Künstler, genauer gesagt Maler und Zeichner, so wie es Mr. Neville im »Kontrakt des Zeichners« von Peter Greenaway ist. Seine früheren philosophischen Studien – beispielsweise bei Max Bense in Stuttgart – führen ihn eher auf Abwege, und Paracelsus und Cusanus sind nur Irrlichter auf der Suche nach den Tätern von mutmaßlichen Morden an einer Studentin und einer Professorin der Linguistik. Auch der Held bleibt nicht von Anschlägen verschont.

Die übliche, nicht unsympathische Rolle des Inspektors Lestrade spielt der Tübinger Kriminalkommissar Albert Neunzig, dem Kersting immer einen Schritt voraus ist. Für Kenner und Liebhaber des Genres finden sich in dem Buch noch weitere Anspielungen, so der Zettel mit dem ersten Hinweis auf ein »Herbarium« (Sir Arthur Conan Doyles »Der rätselhafte Zettel«) und Kerstings »alter eckiger Volvo« als Gegenstück zu Inspektor Columbos Peugeot.

Die in Sir Arthur Conan Doyles Romanen beschriebene Methode entspricht der ärztlichen Kunst der Pathologie. Hinter Kerstings Vorgehen steht seine Künstlerschaft, mit der er langsam, durchaus wortwörtlich, ein Bild zusammensetzt. Der Universitätskanzler – ein Jurist – vermisst dagegen an Kerstings Überlegungen »Kausalität im Sinne eines logischen, objektiven Bedingungszusammenhangs« und wird zur Strafe für zu großes Entgegenkommen gegenüber seinen Rotarischen Freunden ins Ministerium zurückversetzt.

Am Ende der Geschichte, die den Protagonisten auch noch mit einer hübschen Studentin zusammenführt, steht die Entdeckung der gemeinsamen Ursache der mysteriösen Todesfälle. Selbstverständlich findet sich diese nicht im protestantischen Tübingen, sondern in der für die Ausschweifungen eines Konzils berüchtigten Stadt am Bodensee. Nur so viel sei verraten: Beim »Herbarium« geht es keinesfalls um die Sammlung des berühmten Tübinger Botanikers Leonhart Fuchs (1501–1566) in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien, sondern um sehr Lebendiges.

Zu guter Letzt hilft dann noch eine winzige Beobachtung zur endgültigen Aufklärung der Fälle. Bestätigt wird damit das von Thomas A. Seboek und Jean Umiker-Seboek zitierte, berühmte Wort des großen Sherlock Holmes an seinen Gehilfen Dr. Watson: »Du kennst meine Methode. Die beruht auf der Berücksichtigung von Kleinigkeiten.« (In »Das Geheimnis von Boscombe Valley«.)

In der Summe ist es eine, auch wenn sie Klischees nicht immer entgeht und manches vielleicht etwas konstruiert wirkt, unterhaltsame und darüber hinaus bereichernde Lektüre. Nicht nur für (ehemalige) »Tübinger«, die die Orte der Handlung zwischen Unterjesingen und Hagelloch, Wilhelm- und Nauklerstraße, in »Neuer Aula« und »Brechtbau« kennen und schätzen.

Claus-Peter Clostermeyer

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