Titelbild eines Buches

Die Werkbundsiedlung am Weißenhof. Vom Neuen Sitzen und Gestalten

Eine Publikation des Deutschen Werkbunds Baden-Württemberg. Hrsg. von der Stadtgruppe Stuttgart. avedition Stuttgart 2022. 110 Seiten mit 120 Abbildungen, Broschur 24,– €. ISBN 978-3-89986-386-4

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Mehr als Stehen, Laufen oder Liegen ist das Sitzen eine menschliche Grundhaltung, über die es länger nachzudenken lohnt, mindestens, wenn dazu Möbel benutzt werden. Und nicht selten wirken Sitzgelegenheiten eher wie solitäre Objekte, wie Ergebnisse ambitionierten kreativen Schaffens, nicht um schlicht den Körper zu entlasten. Wobei diese Funktion für den niederländischen Designer und Architekten Mart Stam zentral war, als er für seine schwangere Frau einen Stuhl aus Gasrohren zusammenschraubte und ein Holzbrett auflegte: So soll laut einer legendären Geschichte der »Freischwinger« in die Welt gekommen sein. Das war im November 1926, als Le Corbusier, Mies van der Rohe und Mart Stam sich über die Möblierung der gerade im Bau befindlichen Werkbundsiedlung am Weißenhof unterhielten. Bei der Eröffnung der Ausstellung im Jahr darauf waren tatsächlich in zwei Wohnungen, denen von Mart Stam und Mies van der Rohe, Stühle ohne Hinterbeine zu bestaunen, die sich freilich optisch und in ihrer Bequemlichkeit stark unterschieden. Woher die Inspiration letztlich kam – ob von Auto- oder Flugzeugsitzen oder von neuen technischen Möglichkeiten auskragender Konstruktion oder ob es einfach in der Luft lag – kann kaum mehr geklärt werden. Erste Stühle mit zwei Beinen aus Sperrholz hatten die Brüder Heinz und Bodo Rasch bereits 1926 gebaut, ein ähnliches Modell gehörte dann auch zur Ausstattung von Peter Behrens. Und schon Ende 1925 war auf einer Ausstellung von Bauhaus- Arbeiten in der Kunsthalle Dessau der Prototyp des späteren Wassily-Fauteuils, damals Clubsessel genannt (entworfen von Marcel Breuer), zu sehen gewesen. In einer von Stuttgart ausgehenden Wanderausstellung »Der Stuhl« wurden ab 1928 mehrere Stahlrohrstühle präsentiert, ebenso in den beiden gleichnamigen Büchern von Adolf G. Schneck und den Brüdern Rasch.

Wie die Geschichte von den Stühlen beziehungsweise »Vom Neuen Sitzen und Gestalten« weitergeht, wie die Hersteller (später Thonet und Knoll) mit dem Erbe umgehen, wie die Klassiker sich veränderten und natürlich, in welchem zeit- und kulturhistorischen Kontext sich die ganze Entwicklung bewegt, das alles kann man nachlesen. Sie bildet das Zentrum der zweiten Publikation der Reihe »Weißenhofhefte« (nach dem ersten mit dem Titel »100 Jahre zeitnah«), in dessen quadratischen etwas über hundert Seiten freilich noch vieles andere Platz gefunden hat. Finden musste, denn die zahllosen Informationen (parallel in Text, Anmerkungen und Bildunterschriften) samt der Fülle an Abbildungen auf zu engem Raum erschweren leider die Lesbarkeit und mindern, bei aller Bewunderung für die ambitionierte Gestaltung, ein wenig die Freude an der Lektüre.

Gleichwohl: Zu entdecken oder wieder zu entdecken sind zudem Richard Herre als Mann der ersten Stunde der Werkbundausstellung, der nicht selber bauen, aber Max Tauts Einfamilienhaus beispielhaft ausstatten konnte; Werner Graeff als neuer visueller Gestalter und Weißenhof- »Presse- und Propagandachef«; Mia Seeger, deren Karriere als Designerin in diesem Heft angerissen und für die nächste Folge versprochen wird, und schließlich Hans Poelzig, der eher mit Berlin als mit der Stuttgarter Weißenhofsiedlung assoziiert wird – dass auch seine Frau Marlene schon hier aktiv beteiligt war, ist vielleicht eine Neuigkeit, der nachzugehen sich lohnen würde.

Zuguterletzt gibt es noch eine Antwort auf die Frage, wie viel Weißenhof in der Wohnstadt Asemwald steckt und in die Nachbetrachtung mündet, dass Richard Döcker als Architekt zweier Einfamilienhäuser sich in einem Gutachten vehement gegen Wohnungsbauten als »Objekte zur Befriedigung sensationeller Gelüste« aussprach. Glücklicherweise fand er kein Gehör, denn der Asemwald gilt inzwischen seit einem halben Jahrhundert als »gelungenes Beispiel für langlebigen und lebenswerten Siedlungsbau«.

Ergo: Suchen Sie sich ein bequemes Sitzmöbel und lesen Sie nicht das ganze Heft auf einmal, sondern immer mal wieder einen Beitrag – das Eintauchen in die 1920er-Jahre hat dann etwas sehr Erquickendes und Anregendes.

Irene Ferchl

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