Titelbild des Buches

Brigitte Hohlfeld (Hrsg.) Bitteres Ende – schwieriger Anfang. Zeitzeugenberichte zu den Jahren 1933–1955.

Waldkirch Verlag Mannheim 2019. 512 S. m. zahlr. SW-Abb. Hardcover € 29,–. ISBN 978-3-86476-117-1.

Titelbild des Buches

Ein strahlender Pimpf in Jungvolk-Uniform, jugendliche Marinehelfer und eine vaterlose Familie lachen vor den ausgebrannten Ruinen Mannheims die Leser auf dem Cover eines über 500 Seiten starken Bandes entgegen, den der Mannheimer Waldkirch-Verlag zum 80. Jahrestag des Kriegsbeginns herausgegeben hat. Die Fotos stammen von Menschen, die der Bitte der Mannheimer Historikerin, ehemaligen Realschuldirektorin und Vorsitzenden des Ältestenkreises der ChristusFriedenGemeinde, Brigitte Hohlfeld, gefolgt sind, von ihren Erlebnissen und Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit zu berichten. Damit reiht sich der Band in die Reihe der Zeitzeugenberichte ein, die nun, am Ende der Dekade der Zeitzeugen (Norbert Frei), die Erfahrungen der Kriegskinder und -enkel thematisiert. Ursprünglich nur für die Mitglieder der Kirche gedacht, die als einzige im Zweiten Weltkrieg unzerstörte Mannheimer Kirche eine besondere Rolle in der Erinnerungskultur der Stadt einnimmt, weitete sich der Kreis der Beteiligten rasch über die Grenzen der Gemeinde und Stadt aus und fand auch in anderen Bundesländern Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Knapp die Hälfte der 83 Beiträge stammt von Mitgliedern der Kirchengemeinde. Es sind bekannte und unbekannte Mannheimer*innen, alle namentlich und mit Kurzbiografien präsentiert. Vierundzwanzig von ihnen sind in Mannheim geboren, zweiundsiebzig leben heute dort. Die unterschiedliche geografische Verortung bringt die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, das Nebeneinander friedlicher und kriegerischer Erlebnisse zum Ausdruck. So wird etwa deutlich, dass die feindlichen Fliegerangriffe erst sehr spät die Menschen im Osten in Schrecken versetzten, während die Menschen sie im Westen deutlich früher zu spüren bekamen.

Die Kriegs- und Nachkriegsjahre haben alle Beteiligten tief geprägt. Der älteste Zeitzeuge war zum Zeitpunkt seines Berichtes hundert Jahre alt, die jüngsten waren fünfundsiebzig. Entsprechend groß ist die Bandbreite des Erinnerten. Während viele der Beiträger die Kriegs- und Nachkriegsjahre bewusst erlebt und erlitten haben, geben einige wenige vor allem wieder, was ihnen ihre Eltern, Großeltern oder ältere Geschwister erzählt haben. Doch nur ein Bricht verweist auf die transgenerationale Weitergabe von Traumata. Vielfältig und unterschiedlich ist auch die Qualität der Berichte, in die die Herausgeberin kursiv gesetzte Sacherläuterungen eingefügt hat. Während einige Zeitzeugen ihre Erlebnisse nur knapp auflisten, bringen andere in ausführlichen Schilderungen und anschaulichen Bildern den Lesern die Schrecken des Erlebten sehr nahe. Dauernde Angst vor Fliegerangriffen und Bombennächten, aber auch vor Überwachung und Bespitzelung, das Grauen der Flucht, Mangel, Not und Entbehrung, der Verlust von Familienmitgliedern und der vertrauten Umgebung dominieren die Erinnerungen. Wie ein roter Faden zieht sich die Erfahrung von auseinandergerissenen Familien und abgebrochenen Schulausbildungen, das Wegbrechen jeglicher Sicherheit durch die Berichte.

Flucht und Vertreibung nehmen in den 13 Kapiteln des Bandes quantitativ einen ebenso großen Raum ein wie die Berichte vom weitgehend unhinterfragten Eingebunden-Sein in das Unrechtssystem als Hitlerjunge, Flakhelfer, BDM-Mädchen, Frontsoldat oder Kriegsgefangener. Nur zwei Berichte stammen von Verfolgten des NS-Staats, was angesichts der Bedeutung Mannheims, das als einstige rote Hochburg auch noch im Krieg ein Zentrum des Widerstands war, verwundert. Auffallend ist auch, dass Verfolgung und Ausgrenzung Anderer offenbar nur selten bewusst wahrgenommen, oft scheinbar erst im Nachhinein als Unrecht realisiert wurde. Zumindest nehmen sie in den Berichten über das eigene Leid wenig Raum ein, auch wenn die Heraus-geberin in ihrer Einleitung feststellt: …aber allen war bewusst, dass die Ursache dafür die NS-Herrschaft in Deutschland, die oft bedingungslose Gefolgschaft weiter Teile der Bevölkerung, besonders auch der Eliten, der Holocaust und der verbrecherische deutsche Vernichtungskrieg im Osten gewesen ist (S. 14/15). Doch ein Reflektieren über den Zusammenhang von eigenem und fremdem Leid fehlt in den meisten Berichten. Nur selten wird der Zusammenhang so deutlich formuliert wie von der Zeitzeugin, die über den Bericht ihrer schrecklichen Flucht aus Ostpreußen den Satz setzte: Sie taten das mit uns, was wir mit ihnen im Krieg getan haben (S. 230) oder jener Ex-Breslauerin, die angesichts der verlorenen Heimat feststellt: Und noch eines werde ich nie vergessenen: Ich habe sie [die Heimat; die Verf.in] verloren, weil mein Land einen verbrecherischen Krieg geführt hat, um ‘Lebensraum’ im Osten zu erobern (S. 193). Es sind keine Mannheimer*innen, die in dem Band von den Verbrechen der Deutschen in der besetzten Sowjetunion berichten, sondern fünf Überlebende, deren Berichte dem Archiv des Vereins KONTAKTE – KOHTAKTbl e.V. entnommen sind, der sich der vergessenen Opfer annimmt.

Der Buchtitel steckt den Zeitraum der Berichte mit den Jahren 1933-1955 ab. Tatsächlich stehen aber, wie es auch explizit im Vorwort und der Einleitung heißt, die Erfahrungen und Erlebnisse im Zusammenhang des Zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Zeit danach (S. 11) im Fokus. Das hängt neben der Absicht der Herausgeberin notwendig auch mit dem Alter der Zeitzeugen zusammen. Deren Geburtsjahr liegt fast bei allen erst nach 1933. Doch kann man die Kriegsjahre so ohne weiteres von den sechs Vorkriegsjahren des Dritten Reichs trennen, in denen die meisten Familien der Berichtenden durchaus von dem mit der Aufrüstung verbundenen Wirtschaftsaufschwung profitiert haben und nicht wenige mit dem Regime einig waren? Über das Nebeneinander überzeugter Nationalsozialisten und von ihnen Verfolgter, selbst in einer Familie lag lange eine Decke des Schweigens gebreitet (S. 292).

Für viele der Berichtenden sind die Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegsjahre bis heute mit Albträumen verbunden, andere haben sie abgekapselt und lange davon geschwiegen. Denn es sind quälende Erinnerungen an Erlebnisse, die in ‚normalen’, also friedlichen Zeiten völlig undenkbar sind, wie die Herausgeberin in ihrer Einleitung schreibt (S. 14). Wohl alle verbinden mit ihrem Bericht aber den Wunsch, dass es der nächsten Generation besser gehen möge. Einige formulieren das explizit, manche richten ihren Bericht ausdrücklich an ihre Enkel. Doch die Frage, was sie von ihren Erlebnissen, bewusst oder unbewusst, an ihre Kinder weitergegeben haben, stellt in dem Band niemand. Insofern ist zu wünschen, dass das Projekt, das in bemerkenswert kurzer Zeit durchgeführt wurde, nur ein Anfang ist und Anlass bietet für viele Gespräche in den Familien.

Visits: 186

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert